Erst im März machte Mainz Schlagzeilen, als am Hauptbahnhof drei Tauben angezündet wurden. Wenig später wurde ein Fall von mit Rattengift vergifteten Vögeln bekannt, dann schoss jemand mit einem Luftgewehr auf sie. „2019 sind der Polizei Mainz insgesamt acht Fälle von Tauben mit nachweislich vorsätzlich herbeigeführten Verletzungen gemeldet worden“, sagt Polizeisprecher Rinaldo Roberto. 2018 waren es zwei, 2017 kein einziger. Ein Dunkelfeld werde durch das verstärkte Anzeigeverhalten aufgehellt, so Roberto.
Gewalt nimmt zu
Vom problematischen Verhältnis zwischen Mensch und Taube können Dagmar Diehl und Laura Böttcher ein Lied singen. In ihrer Obhut landen jedes Jahr rund 1.000 kranke und verletzte Tauben aus ganz Mainz. „70 bis 80 Prozent können wir wieder aufpäppeln“, schätzt Dagmar, die neben der Kleintierpflege im Tierheim auch den offenen Taubenschlag mitbetreut, „aber die Angriffe häufen sich.“ Die drei Brandopfer kurieren sich derzeit mit weiteren lädierten Artgenossen in der „Behinderten- Voliere“ aus. Zwischen 30 und 40 Tauben verschiedenster Färbung, Größe und Invalidität humpeln und flattern durch das umzäunte Gehege. Die häufigste sichtbare Verletzung sind abgetrennte Zehen, verursacht durch Haare und Kunststofffasern. Sie wickeln sich beim Gang durch die Straßen um die Füße der Tauben. Deren Versuche, sich durch Picken und ziehen davon zu befreien, schnüren die Fäden nur noch enger, bis die Gliedmaßen absterben. Eine weitere Gefahr sind Metall-Spikes, die auf Balkonen und Dächern zur Taubenabwehr angebracht werden. Obwohl verboten, finden sich immer wieder speziell angespitzte Spikes, auf denen sich Tauben, insbesondere frisch geschlüpfte Jungtiere, aufspießen.
Leben am Limit
„Die Tauben haben in der Stadt ein katastrophales Leben“, erklärt Laura. Seit fünf Jahren ist die 24-jährige ehrenamtlich in der Taubenhilfe aktiv und hat den Verein „Stadttaubenhilfe“ ins Leben gerufen. Der Hunger, weiß sie, treibt die Tauben zur Verzweiflung. „Essensreste, Steine, Erbrochenes, Kot. Das essen die Tauben nur, wenn sie kurz vorm Verhungern sind.“ Ihre Arbeit richtet sich deshalb nach dem sogenannten Augsburger Modell: Sie geben den Tieren ein Zuhause, artgerechtes Körnerfutter und Wasser und sorgen gleichzeitig dafür, dass sie sich nicht weiter fortpflanzen. Zwischen sieben und neun Mal pro Jahr legt eine Taube ein bis zwei Eier, die sie gegen Gipseier austauschen. „Viele Leute denken, wir wollen, dass es noch mehr Tauben in der Stadt gibt. Dass wir es ihnen gemütlich machen. Dabei wollen wir das Gegenteil“, erklärt Laura, die schon viel Häme und Unverständnis für ihre Arbeit geerntet hat.
Was die Wenigsten wissen: Stadttauben sind eigentlich ausgewilderte Haustiere. Das erklärt nicht nur ihre große Verbreitung, sondern auch ihre Zutraulichkeit zu Menschen. Normalerweise können sie bis zu 25 Jahre alt werden, in der Stadt schaffen es die meisten auf maximal zwei bis drei. Neben Stadttauben landen auch Wild- und Zuchttauben im Tierheim. „Das sind unsere ‘Einwegtauben’“, sagt Dagmar und zeigt auf eine der hinteren Volieren. Hübsche weiße Vögel mit buschigen Schwänzen und schwarzen Knopfaugen. Sie kommen von einem Züchter, der sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr um sie kümmern konnte. Tauben dieser Art werden fast ausschließlich gehalten, um sie bei Hochzeiten fliegen zu lassen. „Die werden nur auf Schönheit gezüchtet“, sagt Dagmar, „haben aber keinen Orientierungssinn. Wenn sie einmal losfliegen, sind sie verloren.“ Tauben sind keine Einzelgänger. Sie leben in Gruppen, manche sogar in lebenslangen monogamen Beziehungen (hier im Tierheim unter anderem ein schwules Pärchen sowie ein polyamores Dreiergespann). Alleine und ohne Orientierung fallen sie in der Natur schnell Raubtieren zum Opfer oder verhungern.
Angst und Profit
Heute ist Impftag im Tierheim. Zweimal im Jahr werden alle Tauben gegen Taubensalmonellen und Paramyxovirose, kurz PMV, geimpft. Die Krankheiten sind taubenspezifisch, für Menschen ungefährlich. „Tauben übertragen nicht mehr oder weniger Krankheiten als andere Vögel und Wildtiere“, sagt Dagmar. Das Bild von der Taube als Krankheitsüberträger werde nicht zuletzt durch die Menschen aufrechterhalten, die davon profitieren: „Taubenabwehr mit Spikes und Klebepasten ist ein Riesengeschäft. Auch Greifvögel werden eingesetzt. Die bringen aber so gut wie gar nichts. Sie können nur einzelne Tiere fangen, und oft werden sie dabei lediglich verletzt, nicht getötet.“ Wer Tauben abwehren will, ohne sie zu verletzen, sollte daher darauf verzichten. Wie viele Tauben es in Mainz gibt, lässt sich nur schwer schätzen. Erhebungen gibt es keine. Im Schlag des Tierheims leben zwischen 400 und 500. Im Mai wurde außerdem ein Schlag im Dach der Anne Frank-Realschule für etwa 30 Tiere wiedereröffnet, nachdem er jahrzehntelang ungenutzt war. „Gemeinsam mit der Taubenhilfe werden zurzeit neue Standorte gesucht“, sagt Stadtsprecher Marc-André Glöckner. „Konkrete Vorschläge gibt es noch keine.“ Sinnvoll wäre ein Schlag im Bereich des Hauptbahnhofes, wo die Population besonders hoch ist. Dagegen wehrt sich wiederum die Deutsche Bahn: „Unsere Erfahrungen mit Taubenhäusern in Bahnhöfen waren bisher nicht erfolgreich“, schreibt eine Bahnsprecherin. Man konzentriert sich stattdessen auf Taubenabwehr mit Spikes und Netzen. Auch das Füttern von Tauben ist im Bahnhof, wie im Rest der Stadt, verboten. 55 Euro Bußgeld drohen bei einem Verstoß.
Friedliches Miteinander
Man muss Tauben nicht mögen, um ihnen ein Leben ohne Leid zu wünschen. Ihre Population durch Taubenschläge zu reduzieren nutzt letztendlich allen, zuallererst den Tieren. Ein gutes Zeichen ist die Unterstützung durch die Stadt bei der Raumsuche und vermehrtes Anzeigen bei Verletzungen – immer mehr Menschen werden für das Thema sensibilisiert. Wer eine kranke oder verletzte Taube in der Stadt findet, sollte sie sofort sichern, die Stadttaubenhilfe verständigen oder sie ins Tierheim bringen. Im Notfall ist die Feuerwehr zuständig. Wer Räume für einen Taubenschlag zur Verfügung hat, kann sich bei der Taubenhilfe melden.
Text Ida Schelenz Fotos Domenic Driessen