von Ejo Eckerle Fotos Jana Kay
Die schlechte Nachricht erreicht Christian Stenner (22) zwei Tage vor seinem Urlaub: Exmatrikuliert! Aus die Maus, gescheitert. Der Traum vom Maschinenbau-Studium zerschellt für Stenner an einer für dieses Fach berüchtigten Klippe, der Prüfung in technischer Mechanik. Dreimal hatte er versucht, diese Hürde zu nehmen, doch letztlich halfen ihm selbst 12-stündige Lern-Marathons nicht. Wie fühlt man sich nach so einer verlorenen Schlacht? „Da ist für mich die Welt untergegangen. Mein Studium war nun definitiv vorbei und ich hatte nichts in den Händen!“
In so einer Situation hilft es wenig, sich klarzumachen, dass rund 30 Prozent aller Bachelor-Studenten ihr Studium frühzeitig beenden und bezogen auf die Region man sein Schicksal mit rund 800 anderen pro Semester teilt, die der Uni oder der Fachhochschule vorzeitig den Rücken kehren – aus welchen Gründen auch immer. Genau diese Zielgruppe gerät zunehmend in den Fokus von Organisationen wie der Industrie- und Handelskammer (IHK). Die haben nämlich mit einem passenden Phänomen zu tun: Der Wirtschaft geht der Nachwuchs für die Berufe des dualen Bildungswegs aus, also all jener Ausbildungen, die parallel in Betrieb und Berufsschule, meist mit dreijähriger Dauer, absolviert werden.
Ex-Studis – das neue Arbeitsmarkt- Potenzial
„Wir versuchen, diese jungen Menschen zu erreichen“, sagt Günter Jertz, Hauptgeschäftsführer der IHK Rheinhessen. Er hört bei seinen Gesprächen an der Basis, wie deutlich der abzeichnende Fachkräftemangel den Unternehmen zu schaffen macht. In den Studienabbrechern schlummere ungenutztes Potenzial, das es zu fördern gelte. Für dieses Ziel hat sich die Unternehmer-Lobby eigens eine neue frische Homepage zugelegt , die sich vom offiziösen Internetauftritt der Kammer abhebt. „Ein schneller Berufseinstieg, eine verkürzte Ausbildung mit Aufbau auf Vorkenntnissen und direkter Praxisbezug: Wandeln Sie einen Studien-Abbruch in eine Chance zum Durchstarten in die duale Berufsausbildung um!“, heißt es dort.
Auch weitere Maßnahmen sind geplant bzw. laufen schon: Postkarten, die zum „Durchstarten“ auffordern, finden sich in Fitness- Studios und Kneipen. „Durchstarten“ ist so etwas wie eine konzertierte Aktion, an der sich neben der IHK und der Handwerkskammer (HWK) auch die Hochschulen und die Agentur für Arbeit beteiligen. Vor wenigen Wochen fand in der alten Mensa der Gutenberg-Universität ein Infoabend statt, den die IHK zusammen mit dem Career Service der Uni und der Agentur für Arbeit veranstaltet hat. Der nächste Termin ist schon gesetzt. Am 6. Oktober gibt es einen Workshop, der all jene ansprechen soll, die ihr Lehramtsstudium an den Nagel hängen wollen und nach beruflichen Alternativen suchen.
Eigener Chef werden
Günter Jertz (IHK) hat natürlich bei dieser Rekrutierungs-Offensive ein sehr spezielles Interesse. Immerhin blieben in diesem Jahr 161 Ausbildungsplätze in seinem Einzugsbereich unbesetzt: „Wir möchten klarmachen, dass das Studium nicht der einzige Weg ist, der einen voran bringt. So etwas wie sein eigener Chef mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu werden kann etwas sehr Erfüllendes sein. Das wollen wir fördern.“ Allerdings zeichnet sich ab, dass die von Ex-Studis gewählten Alternativen sich häufig auf eine schmale Auswahl von Berufsbildern konzentrieren: dazu zählen kaufmännische Berufe, Ausbildungen im Bereich der neuen Medien und der IT.
Dass also aus ehemaligen Philosophie-Studenten Bäcker oder Elektroanlagen-Monteure werden, ist hier wohl eher die Ausnahme. Etwas anders sieht es im Handwerk aus: „Studienaussteiger bevorzugen häufig technisch anspruchsvolle Ausbildungen. Aber auch kreative Berufe sind gefragt wie Tischler oder Goldschmied“, so die Erfahrungen von Dominik Ostendorf von der HWK Rheinhessen. „Gerade in den letzten Wochen wurden zwei ehemalige Studenten in eine Ausbildung als Tischler und einer an einen Orthopädiemechaniker vermittelt.“
Christian Stenner, unserem Ex-Maschinenbau- Studi, war dagegen schnell klar, dass er etwas Fachverwandtes in Angriff nehmen will. Zugute kamen ihm Erfahrungen, die er als Praktikant bei der Schott AG gesammelt hatte. Und Glück war auch dabei, denn sein künftiger Ausbilder signalisierte ihm: Da geht noch was! – „Gleich nach meinem Urlaub bin ich direkt zum Einstellungstest gegangen.“
So sitzt Christian heute in der Schott-Lehrwerkstatt und bastelt an einer Cappuccino- Schablone, die das Schott-Logo auf den Milchschaum zaubern soll, eine Fingerübung mit durchaus seriösem Hintergrund. Denn selbstverständlich geschieht so etwas heutzutage im industriellen Alltag nicht mehr mit Feile und Säge, sondern wird computerunterstützt als 3D-Modell entworfen. Christian Stemmer ist jetzt Auszubildender für den Beruf des „Technischen Produktdesigners für Maschinen- und Anlagenkonstruktion“.
Gute Erfahrungen mit Abbrechern
Die Mainzer Schott AG als großer, attraktiver Arbeitgeber tut sich natürlich leichter, wenn es darum geht, Nachwuchs zu gewinnen. Dort sind Studienabbrecher inzwischen nicht mehr die Exoten unter den Azubis, sondern vielmehr gerne gesehen. „Mit Studienabbrechern haben wir gute Erfahrungen gemacht, da sie in der Regel wissen, worauf es in der Ausbildung ankommt und entsprechend zielstrebig vorgehen“, sagt Hannelore Scheidt, Leiterin Aus und Weiterbildung. Noch immer kann das Unternehmen vergleichsweise aus dem Vollen schöpfen. Auf einen Ausbildungsplatz gibt es im Durchschnitt 25 Bewerber. „Allerdings“, schränkt Scheidt ein, gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen kaufmännischen und technischen Berufen.“
Die Schieflage, die sich vor allem für kleinere, mittelständische Betriebe im Run auf die besten Köpfe abzeichnet, findet sich auch in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „Wie viel akademische Bildung brauchen wir zukünftig“ wieder: „Ohne Frage werden attraktive Arbeitgeber wie die bekannten technologieintensiven Großunternehmen aus den Kernbranchen und Bildungszentren der deutschen Industrie auch unter diesen Bedingungen weiterhin junge Leute für eine berufliche Ausbildung motivieren können. Dies wird aber kaum mehr der Mehrzahl der kleineren und wenig attraktiven Unternehmen auf dem platten Land gelingen.“
Akademiker verdrängen Praktiker
Eigentlich ist die duale Berufsausbildung ein Erfolgsmodell, um das Deutschland international beneidet wird. Doch zwei Entwicklungen machen ihr zunehmend zu schaffen: der sich abzeichnende demografische Wandel (schlicht weniger junge Menschen, die nachwachsen) sowie die rasant gestiegene Zunahme von Studienberechtigten. Mittlerweile legen fast 60 Prozent eines Altersjahrgangs das Abitur ab. Und von denen strebt die weitaus größte Mehrheit an die Hochschulen. Bildungspolitisch werden die steigenden Studierendenzahlen als Erfolg gedeutet, aber für den Arbeitsmarkt könnten sie bald eine verhängnisvolle Entwicklung nach sich ziehen.
Mehr und mehr Hochschulabsolventen verdrängen mittlere und höhere berufspraktische Qualifikationen. Oder anders: Das wachsende Angebot von Akademikern ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf, der zu Lasten der dualen Berufsbildung (Lehre) geht. Es kommt zu einem Überangebot von Akademikern, das beruflich ausgebildete Arbeitskräfte verdrängt und deren Karriere-Aussichten verfinstert. Was wiederum dazu führt, dass sich die Mehrheit am Studium und akademischen Weihen orientiert.
Zwar muss ein Bachelor heutzutage nicht befürchten, als Taxifahrer zu enden, aber schon jetzt leistet in vielen Unternehmen ein durchschnittlicher BWL-Absolvent das, was früher ein Industriekaufmann erledigt hat. Für Christian Stenner hat sich seine neue Ausbildung als Glücksfall erwiesen. „Zwar“, gibt er zu, „war das Studentenleben etwas entspannter, aber jetzt eigenes Geld zu verdienen hat auch etwas.“ Die Berufsschule bewältigt er mit links und bei seinen Mitschülern macht er sich durch seine guten Mathekenntnisse beliebt. Nach seiner Ausbildung will er es vielleicht noch einmal versuchen mit einem Studium. Möglicherweise gibt es auch da eine zweite Chance.