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2×5 Interview mit dem Arzt und Professor Gerhard Trabert

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Sie sind bekannt für Ihren Einsatz für Obdachlose und Flüchtlinge; haben sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Wie ist es dazu gekommen?

Die Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft hat mich schon immer berührt. So hospitierte ich während meines Medizinstudiums in einem Lepra-Krankenhaus in Indien und habe mit dem Gedanken gespielt, im Ausland zu arbeiten. Aber dann habe ich mir gesagt, „schau erst mal in deinem Land, ob es nicht auch hier Armut und Ausgrenzung gibt“. Und da war vor allem die Wohnungslosen-Szene, deren Versorgung nicht gut ist. Das wollte ich ändern. Also gehe ich zu den Menschen und warte nicht, bis sie zu mir kommen. Das tue ich mit meinem „Arztmobil“, einem fahrenden Sprechzimmer.

Wie viel Zeit verwenden Sie für die Obdachlosen-Hilfe?

Sehr viel Zeit. Mein eigentlicher Job ist meine Professur im Fach Sozialmedizin an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Die Versorgung von Wohnungslosen ist sozusagen mein Nebenjob. Vor 22 Jahren habe ich damit begonnen, schließlich den Verein „Armut und Gesundheit“ gegründet und vor drei Jahren die „Ambulanz ohne Grenzen“, eine Art Poliklinik, auf der Zitadelle eingerichtet. Dahin kommen aber nicht nur Wohnungslose, sondern auch illegalisierte Menschen, Haftentlassene oder Bürger, die ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen können.

Nehmen Obdachlosigkeit und Armut zu?

Ja, Wohnungslosigkeit nimmt zu. Das hat unter anderem mit der Mietsituation und mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg sowie natürlich gravierende Lebensereignisse können zu einer Entwurzelung führen. Bezüglich der Gesundheitsversorgung gibt es strukturelle Versäumnisse und Hindernisse die besonders wohnungslose Menschen, legal hier lebende Menschen aus Osteuropa, Haftentlassene, aber auch Kleinunternehmer betreffen, die durch eine wirtschaftliche Schieflage in eine Notsituation geraten sind. Für viele von diesen Menschen ist ein großes Loch im Versorgungssystem. Die sind nicht krankenversichert und auch die Übernachtung in einem Wohnungslosenheim ist schwierig.

Spielt bei Ihrer Arbeit auch das Thema Altersarmut eine Rolle?

Ja, auf uns kommt ein Tsunami der Altersarmut zu. Aus allen Erhebungen geht hervor, dass viele Menschen trotz Rente auf weitere Leistungen angewiesen sind. Immer häufiger kommen zu uns verarmte Alte, die es nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung geschafft haben mit fortgeschrittenen Krankheiten. Wir versuchen, dann eine stationäre Behandlung zu organisieren und die Menschen wieder zurück in die Versicherung zu bekommen. Wir wollen den Menschen wieder ein Stück ihrer Würde zurückgeben, sie stärken. Wir wollen keine Armutsmedizin etablieren. Wir wollen, dass unser System sie auffängt.

Sie sind auch oft im Ausland. Zuletzt haben Sie Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet.

In diesem Jahr gab es drei Brennpunkte: an der syrisch-türkischen Grenze, wo wir ein Waisenhaus unterstützen, dann war ich in Idomeni, wo 10.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen leben mussten und an der libyschen Küste im Mittelmeer, wo wir mit der Sea-watch Bootsflüchtlinge versorgten. Da habe ich mich geschämt, Europäer zu sein. Deswegen fordern wir legale Einwanderungswege. In meinen Augen ist die Zurückdrängung von Flüchtlingen kriminell und unmenschlich. Durch den Deal mit der Türkei findet das Sterben jetzt im Stillen statt. Humanität tritt in den Hintergrund. Das ist ein weltweites Phänomen. Putin, Erdogan, Trump, die AfD, das sind Personen und Verbindungen, die nichts mehr mit Demokratie zu tun haben. Das hat seine Wurzeln in einer ungerechten und unsozialen Politik der etablierten Parteien. Armut und soziale Ungerechtigkeit sind die Wurzeln des Übels.

Mensch

Verzetteln Sie sich nicht bei so viel Engagement?

Ich bin da schon am Limit und muss aufpassen, mich nicht auffressen zu lassen. Was mich erdet und zurück in eine andere Welt befördert, sind meine vier Kinder, auf die ich absolut stolz bin: mein ältester Sohn, der u.a. Politikwissenschaften studierte und jetzt bei uns im Verein „Armut und Gesundheit“ arbeitet, mein zweitältester Sohn, der in Ungarn Medizin studiert, meine Tochter, die in Landau Lehramt studiert und mein jüngster Sohn, der in Karlsruhe Sportjournalismus studiert und der jüngste deutsche U19-Bundesliga-Trainer bei den Stuttgarter-Kickers ist. Diese Kinder sind wunderbar und machen mein Leben bunter, lebenswerter und anstrengender.

Ihr Vater war auch im sozialen Bereich tätig?

Er war zunächst Hausmeister im städtischen Waisenhaus hier in Mainz. Weil er aber mit den Kindern sehr gut zurecht kam und sonst auch viel gemacht hat, wurde ihm zu einer Erzieher- Ausbildung geraten. Später war er stellvertretender Leiter. Deswegen war ich es schon früh gewohnt, Freunde oder Spielkameraden zu haben, die aus anderen Lebensumständen kommen, seien es Waisenkinder oder Kinder, deren Eltern geschieden sind und wo sich niemand kümmern konnte. Mir war daher immer klar, dass ich privilegiert bin. Von daher ist da auch eine soziale Verantwortung und Verpflichtung.

Was sagen Ihre Kinder dazu, ihren Vater so selten zu sehen?

Die sind ja jetzt alle älter. Aber ich mute ihnen häufig viel zu, gerade wenn ich ins Ausland gehe. Da müssen sie ihren Vater so akzeptieren, wie er ist. Familie ist für mich trotzdem ganz wichtig. Allerdings kann ich mich auch nicht verstecken und nicht das tun, was ich für richtig empfinde. Ein weiterer wichtiger Ausgleich in meinem Leben ist der Sport. Ich laufe vier bis fünf Mal die Woche oder fahre mit dem Fahrrad. Und ich tanze auch sehr gerne: Standard, Rumba, langsamen Walzer. Meistens ist es dann aber doch der Discofox. Und ich schreibe Tagebuch über meine Erlebnisse, um besser mit den Erfahrungen umzugehen und diese auch loslassen zu können.

Macht Sie das ganze Elend nicht manchmal fertig?

Vieles von dem, was ich erleben und erfahren habe, macht mich traurig und wütend. Und es macht ein wenig einsam. Da ist es wichtig, mit wichtigen Menschen reden zu können. Smalltalk fällt mir eher schwer. Ich brauche schon eine gewisse Intensität und Ernsthaftigkeit. Doch mein Engagement beinhaltet ja nicht nur ein Geben. Ich bekomme auch sehr viel zurück. Ich versuche Würde zu geben und erhalte selbst Würde wieder. Das ist ein Geben und Bekommen.

Haben Sie ein Lebensmotto?

Für mich ist es wichtig, dass mein Handeln auch eine Form von Protest darstellt im Hinblick auf gesellschaftliche Unrechtsstrukturen. „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen“ sagte Stephane Hessel. Ich kann und werde aufgrund meiner Erfahrungen und meiner Biografie Unterdrückungs-Strukturen nicht akzeptieren. Ich setze diesem dominanten Kapitalismus, diesem Leistungsdenken, dieser Ausgrenzung etwas entgegen. Der Däne Jesper Juul hat den Begriff der Gleichwürdigkeit geprägt: Jeder Mensch ist wertvoll und einzigartig, jeder Mensch hat Schätze. Die gilt es zu mobilisieren und durch förderndes Handeln zur Entfaltung zu bringen.

Interview: David Gutsche  Foto: Jana Kay