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„Wer von euch ist Harry Potter?“ – Trainingsbesuch beim Muggel-Quidditch

„Nimmt sich mal bitte jeder einen Besen und einen Mundschutz, dann legen wir los“, ruft Nick über den Platz. Die Spieler kommen zusammen, holen sich jeder eine präparierte Plastikstange und klemmen sich diese zwischen die Beine. Dann laufen sie los, um sich aufzuwärmen. Die Binger Beasts sind eine Muggel-Quidditch-Mannschaft aus Bingen am Rhein. Quidditch, das rasante, schnelle Spiel aus den Harry Potter-Büchern, wird hier zweimal die Woche gespielt. Mit Besen, nur halt eben nicht in der Luft.

„Ob wir fliegen können? Nein, nur auf die Fresse“

Wer bei Quidditch zuschaut, versteht erstmal gar nichts. Alles wirkt wuselig, und tausende Bälle sind im Einsatz. Dann noch PVC-Stangen zwischen den Beinen der Spieler. Im Grunde funktioniert es aber so wie in den Büchern. Jede Mannschaft hat sechs Spieler: drei Chaser (Jäger), die weiße Kopfbänder tragen, den Keeper (Torwart) mit einem grünen Kopfband und zwei Beater (Treiber) mit schwarzen Bändern. Die ersten 17 Minuten werden mit vier Bällen gespielt, drei Klatschern und einem Quaffel. Die Beater sind für die Klatscher zuständig und versuchen mit denen gegnerische Spieler zu treffen. Wird man von einem Klatscher getroffen, muss man vom Besen „absteigen“, also klar seinen Stab hochhalten und damit signalisieren, dass man getroffen wurde. Dann muss man zum eigenen Tor zurückrennen, dieses kurz berühren und darf dann wieder „aufsteigen“ und weiterspielen. Mit dem Quaffel versuchen die Chaser Punkte zu erzielen. Dazu gibt es auf jeder Seite drei verschieden hohe Torringe, durch die der Quaffel geschmissen werden muss, um 10 Punkte zu erhalten. Dies versucht der Keeper zu verhindern.

Mischung aus Handball, Rugby und Völkerball

Nach den 17 Minuten kommt der Schnatz ins Spiel. In den Büchern ist dies ein kleiner goldener Ball, der vom Seeker (Sucher) gefangen werden muss. In der menschlichen Welt wird der Schnatz von einer neutralen Person verkörpert, die gelb angezogen ist. Nach 18 Minuten dürfen die zwei Sucher der beiden Mannschaften ins Spiel eintreten. Ihr Ziel ist, es den Schnatz zu fangen, der 30 Punkte gibt. Ist der Schnatz gefangen, ist das Spiel vorbei. Die Sportart hat in Deutschland mittlerweile viel Anklang gefunden. Insgesamt fünfzig Mannschaften gibt es. Die Binger Beasts hatten sich nach einem Uni-Sportfest 2016 gegründet. Dort war die Quidditch-Mannschaft aus Darmstadt vorbeigekommen und hatte den Sport vorgestellt. Florian und Lukas waren danach so begeistert, dass sie eine eigene Mannschaft ins Leben riefen. Mittlerweile haben sie rund 35 Mitglieder. Aktiv bei den Trainings sind meistens 15 bis 20 Leute dabei. Quidditch ist eine Vollkontakt-Sportart, das heißt, es wird geschoben, getakelt oder geschubst. Mundschutz ist dabei Pflicht, und auch daher die Sportart erst ab 16 Jahren. Da sich die Begeisterung aber auch auf Kinder übertragen hat, gründete eine Mutter in Berlin kurzerhand eine Kidditch-Mannschaft mit sanfteren Regeln. Auch in Bingen wird gerade eine solche Mannschaft aufgebaut.

„Wo ist denn der Blitz auf deiner Stirn?“

Natürlich gibt es immer wieder von Zuschauern doofe Kommentare zu den „Besen“, Fragen nach Harry Potter oder Dumbledore. Die hören die Binger Beasts schon gar nicht mehr. Zudem muss man auch kein Harry Potter Nerd sein, um das Spiel zu lieben. Für Maite, eine der vier Trainer neben Nick, Lukas und Marius, ist das sogar eher ein Hindernis. „Am Anfang dachte ich: Quidditch? Ich bin doch kein Nerd! Aber dann war ich einmal da und konnte nicht mehr aufhören.“ Sechs Mal die Woche wird zu Hochzeiten im Sommer trainiert. „Quidditch ist seit zwei Jahren mein Leben“, sagt Nick. Und Marius ergänzt: „Es ist ein komplexer, aufsteigender, sportlich anspruchsvoller, intensiver Sport mit einer offenen Community.“ Denn Quidditch ist eine Sportart für jeden. Durch die verschiedenen Positionen können Menschen jeder Statur und Kraft mitspielen. Außerdem sichert eine sogenannte Gender-Rule die Vielfältigkeit der Mannschaften. Nur bis zu zwei Dritteln eines Geschlechts darf auf dem Feld stehen, sonst zählen die erbrachten Punkte nicht. Dabei wird jedoch zwischen drei Geschlechtern unterschieden. Männlich, weiblich und neutral, also dass man sich keinem Geschlecht zuordnen möchte. Vor einem Wettkampf muss man dem Deutschen Quidditch Bund (DQB) mitteilen, als was man gesehen werden möchte.

Offene, tolerante Community

„Steckt euch das mal hinten rein“, sagt Nick während des Trainings und verteilt Leibchen mit Knoten als Schnatzersatz. Doch plötzlich fliegen von einigen Mitgliedern der Mannschaft die Arme in die Luft. Eine eiserne Regel bei den Binger Beasts: Wenn mehr als zwei Leute eine Aussage als zweideutig empfinden, muss der, der sie gesprochen hat, zehn Liegestützen machen. Nick zeigt die folgende Übung trotzdem erstmal zu Ende und entgeht so der Regel. Das Training wird bei den Binger Beasts ernst genommen. Dabei kann es auch mal laut, rasant und lustig werden. Da mag der eine oder andere Spaziergänger im Park am Mäuseturm verwundert vorbeilaufen. Doch wer über Quidditch-Spieler lacht, sollte selbst mal mitspielen. Denn so schnell ins Schwitzen wie die Beasts bei ihrem Training kommt man bei vielen anderen Sportarten nicht.

Text Lotta Pommerien Fotos Stephan Dinges