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Studie „Vorfälle sexueller Gewalt im Bistum Mainz“ seit 1945 veröffentlicht

Heute wurde die Studie zu Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit 1945 im Verantwortungsbereich des Bistums Mainz durch den Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber veröffentlicht. Die Vorwürfe richten sich auch gegen den früheren Mainzer Bischof und Kardinal Karl Lehmann (1982 bis 2016). Bei ihm sei ein erheblicher Gegensatz zwischen öffentlich medialem Auftreten und persönlichen Einstellungen und Handlungen zu erkennen. Seinen mit eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche und im Bistum Mainz habe er selbst zu keiner Zeit erfüllt. Erst in der Amtszeit des heutigen Bischofs Peter Kohlgraf (seit 2017) sei der Wille zur Aufklärung klar erkennbar. Die Studie spricht von 181 Beschuldigten und 401 Betroffenen ab einem Alter von 3 Jahren im Bistum seit 1945, bei denen die Vorwürfe nach Prüfung sehr plausibel seien. Sämtliche Infos gibt es unter https://www.uw-recht.org/. Bischof Kohlgraf hat ebenfalls eine Stellungnahme abgegeben: https://bistummainz.de/.

Für die statistische Analyse wurden ab 1945 insgesamt 392 Beschuldigte und 657 Betroffene erfasst. Nach Prüfung von Verantwortung, Tatbestand und Plausibilität verblieben für die weitere Untersuchung 181 Beschuldigte und 401 Betroffene.
Beschuldigte sind sehr überwiegend männlich (96%). 118 Beschuldigte (65%) sind Kleriker, 63 (35%) Laien. Bei 54% der Beschuldigten wurden von einem Betroffenen Vorwürfe erhoben, bei 46% von mehreren. Einmalige Vorfälle sind selten (19%), der überwiegende Teil (81%) sind Mehrfachtaten; das Tatspektrum erstreckt sich dabei von einer sexualbezogenen Grenzverletzung bis zu einer besonders schweren sexualbezogenen Straftat. 61% der Missbrauchsfälle dauern länger als ein Jahr.

Das Alter der Beschuldigten ist heterogen, die Vorfälle erstrecken sich über alle Bischofszeiten. Rund ein Drittel aller Vorfälle ist der Bischofszeit Volk von 1962-1982 zuzuordnen. Von den 181 Beschuldigten kam es bei 81 zu einer Strafanzeige. Vor 2002 erfolgten sämtliche Strafanzeigen durch Zeugen oder Betroffene, nach 2010 zum überwiegenden Teil durch das Bistum. Aus den Strafanzeigen folgten 27 Strafverfahren. Es wurden insgesamt 8 Haftstrafen verhängt, davon nur eine für einen Diözesanpriester. Bei 30% der Beschuldigten wurde ein kirchenstrafrechtliches Verfahren durchgeführt.

Betroffene sind zu 59% männlich und zu 41% weiblich. 61% der Vorfälle geschehen im Umfeld einer Pfarrgemeinde. Der zeitliche Schwerpunkt liegt mit 54% aller Vorfälle zwischen 1960 und 1989. 72% der Betroffenen erleiden mehrfache Übergriffe, der Zeitraum liegt überwiegend zwischen einem und zwei Jahren. Die Altersspanne der Betroffenen liegt zwischen 3 und 62 Jahren; ein Altersschwerpunkt liegt im Kommunionalter bei 10 Jahren, ein weiterer bei postpubertären Jugendlichen mit 14-15 Jahren.

Die Hälfte der Betroffenen wurde Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat. Die ausschließliche Erfassung der Vorfälle ohne Berücksichtigung der Schwere der Tat verzerrt, da schwere und besonders schwere Straftaten überwiegend bis Anfang der 1990er-Jahre verübt und in den vergangenen Jahren zahlreiche Grenzverletzungen gemeldet wurden. Häufige Tatsituationen sind im Rahmen von Freizeit- und Reiseaktivitäten sowie im Pfarrhaus und im privaten Kontext.

Über die Hälfte aller Meldungen (52%) ist seit 2010 eingegangen. Nur 22% der Betroffenen melden den sexuellen Missbrauch innerhalb eines Jahres; rund jede vierte Meldung erfolgt erst nach über 30 Jahren. Je schwerer der Tatbestand, desto später erfolgt die Meldung. Rund ein Drittel aller Betroffenen vertraut sich zunächst kirchlichen Vertretern auf lokaler Ebene an; insgesamt sind die Adressaten einer Meldung sehr unterschiedlich. Nur 21% der Betroffenen haben einen Antrag auf monetäre Anerkennung des erlittenen Leids gestellt.

Ein Vergleich der Ergebnisse aus dieser Studie mit bisher veröffentlichten Aufklärungsstudien ergibt in vielen Bereichen ähnliche Resultate und bestärkt die Validität der vorliegenden Daten.

Aus den Umfragen für Pfarrgemeinden und Caritas-Verbände konnten wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. Allerdings haben sich über 40% der Pfarreien und über 20% der Pfarrverbände und Pfarrgruppen trotz expliziter Aufforderung durch das Bistum nicht beteiligt.

Erste Resonanz von Bischof Peter Kohlgraf
Es zeichnete sich bereits in anderen Bistümern ab, dass die Ergebnisse erschreckend sind, das gilt auch für die Situation im Bistum Mainz. Bewusst haben wir uns in der Konzeption der Studie nicht für einen rein juristischen Ansatz entschieden. Die ausschließliche Betrachtung der Akten hätte angesichts einer unsystematischen Aktenführung in diesen Jahrzehnten kein verlässliches Bild ergeben.
Die Studie ist vorwiegend aufgrund von Gesprächen entstanden. Menschen, die selbst betroffen sind, und Menschen, die etwas wissen und erfahren haben, haben ihre Geschichte erzählt. Dazu gehörte Mut. Ich danke den vielen Menschen, die sich gemeldet und ihre Geschichte geteilt haben. Diese Schilderungen erzählen von schlimmen Erfahrungen, von Verbrechen, die Leben zerstört haben und bis heute Lebensgeschichten prägen. Auch ihre Glaubensheimat ist Menschen zerstört worden. Ein Glaube, der Menschen großmachen soll, der ihnen Sicherheit und ein festes Fundament geben soll, ist mit Gewalt zerstört worden. Kleriker und andere haben sich auf Kosten der ihnen Anvertrauten großgemacht, sie haben andere in vielerlei Hinsicht schrecklich missbraucht.

Zusätzlich haben wir Rechtsanwalt Weber freien Zugang zu allen Aktenbeständen ermöglicht. Er hat selbst bestätigt, dass der Zugang in keiner Weise beschränkt wurde. Er hat sehen können, was sich in den Akten wiederfindet und was nicht.

Die Studie trägt den Titel: „Erfahren – Verstehen – Vorsorgen“ (EVV). Was habe ich erfahren? Ich habe etwas sehr Substantielles erfahren über das Bistum, das ich leite. Als Bischof habe ich Verantwortung übernommen, auch für die Geschichte des Bistums Mainz. Ich habe etwas erfahren über die systemischen Ursachen des Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen. Und: Personen haben versagt. Es hat in der Zeit von Kardinal Lehmann, Kardinal Volk und auch davor große Verfehlungen und Versäumnisse im Bistum an vielen Stellen gegeben. Es ist wichtig, dass das mit der EVV-Studie heute öffentlich wird. Die Taten und Vergehen, die mit der Studie an die Öffentlichkeit kommen, gehören genauso wie das Wegsehen und die
Unfähigkeit Betroffenen Gehör und Glauben zu schenken, zur Geschichte des Bistums Mainz. Deshalb ist es wichtig, dieses Versagen bei der Bewertung des Lebens von Bischöfen wie Stohr, Volk und Lehmann nicht auszusparen. So wichtig ihre Verdienste in vielen Bereichen waren, so unmissverständlich haben wir heute Morgen auch gehört: Ihnen war der Schutz von Tätern und Kirche wichtiger als die Not von Betroffenen, auch wenn es in der Amtszeit von Kardinal Lehmann unterschiedliche
Phasen des Umgangs gibt.
In einer ersten Reaktion auf das Gehörte von heute kann ich sagen: Um der Wahrheit für die Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben. Das gilt für Kardinäle und Bischöfe, das gilt auch für Denkmäler anderer Ebenen. Auch andere Leitungspersonen haben versagt. Vor allem aber hat Rechtsanwalt Weber uns heute Morgen deutlich gemacht: Ein ganzes System hat versagt. Nicht nur die Leitungsebene ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden – auch andere Ebenen haben versagt. Das müssen wir uns noch genau anschauen. Menschen wollten nicht hinschauen, in Familien wollte man nicht glauben oder nicht reagieren, Gemeinden haben relativiert. Dahinter steht ein überhöhtes Bild vom Priester als Vater und heiligem Mann. So hat man sich gegenseitig geschützt, wie in einer geschlossenen Gesellschaft. Und eine Theologie hat teils versagt, weil sie überhöhte Priesterbilder entwickelt und ausgebaut hat.
Was habe ich verstanden? Zumindest beginne ich immer mehr lernend zu verstehen – so würde ich es für mich sagen. Ich lerne zu verstehen, welches Unheil Missbrauch in das Leben von Menschen, Familien, Gruppen und Gemeinden gebracht hat. Ich lerne immer mehr das System zu verstehen, das es bis heute Betroffenen schwermacht, ihre Geschichte zu erzählen. Es geht um Machtverhältnisse, um Verschweigen, um Relativieren, Betroffene haben Druck und Ignoranz erlebt. Wir reden über ein
Verbrechen und nicht über einzelne Skandale oder das Versagen einzelner. Wir reden nicht über „Zölibatsverstöße“, oder wie immer man die Missbrauchstaten einzuordnen versucht hat und noch heute versucht. Menschen sind zerstört worden, Glauben und Vertrauen. Ich versuche auch zu verstehen, welche Priesterbilder derartiges Verhalten gefördert und scheinbar theologisch legitimiert haben. Heute gilt es, eine Sprachfähigkeit zu entwickeln. Die Kommunikation mit Gemeinden und anderen Einrichtungen wird immer wichtiger werden.
Ich werde als Bischof, gemeinsam mit der Bevollmächtigten und dem Generalvikar sowie mit den verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles tun, um Vorsorge zu treffen. Die Studie hat auch gezeigt: Wir fangen nicht bei Null an. Wir arbeiten weiter an transparenten Verfahren, Intervention muss wirksam und professionell gestaltet werden. Die begonnenen Schritte gehen wir konsequent weiter.
Rechtsanwalt Weber hat keinen Maßnahmenkatalog entwickelt, das ist unsere Aufgabe und die Aufgabe der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz, die uns in den nun anstehenden Fragen und Weichenstellungen eng beraten wird. Es ist mir als Bischof von Mainz persönlich ein wichtiges Anliegen, meine Verantwortung wahrzunehmen und mit den Menschen im Bistum die künftigen Wege zu gestalten. Der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, um die Zukunft gestalten zu können, wir
werden uns weiterentwickeln.
Jetzt gilt es zunächst, die umfangreiche Studie zu lesen. Aber schon jetzt kann ich sagen: Die EVVStudie ist ein Meilenstein auf unserem Weg, dieses Thema aus der Tabu-Zone zu holen, die Fragen und Bedürfnisse von Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und unseren Weg eines transparenten Umgangs mit Missbrauch und der Weiterentwicklung unserer Präventionsarbeit konsequent weiterzugehen. Mir ist sehr wichtig zu betonen, dass die EVV-Studie nicht der Abschluss der Aufarbeitung ist.
Konkrete Erkenntnisse und Fragen werden wir am 8. März vorstellen und diskutieren.

Hotline und fünf Dialogveranstaltungen zur EVV-Studie vom Bistum Mainz
Im Rahmen der Veröffentlichung des unabhängigen Aufklärungsprojektes „Erfahren. Verstehen. Vorsorgen“ (EVV) bietet das Bistum Mainz unter anderem eine Telefon-Hotline und mehrere Dialogveranstaltungen im Bistum Mainz an. Die Telefonhotline des Bistums Mainz steht ab Freitag, 3. März, zwei Wochen lang für Fragen und Resonanzen rund um die Veröffentlichung der EVV-Studie zur Verfügung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonhotline unterstützen Anrufer darüber hinaus dabei, Ansprechpartner für ihre Anliegen zu finden. Auch per E-Mail ist eine Kontaktaufnahme möglich.

Die Telefon-Hotline unter der Telefonnummer 06131 / 253-522 ist geschaltet

Freitag, 3. März, bis 10. März, von 8.00 Uhr bis 20.00 Uhr sowie
Samstag, 11. März, bis Freitag, 17. März, von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr

Eine Kontaktaufnahme ist auch per E-Mail unter kontakt@bistum-mainz.de möglich.

Fünf Dialogveranstaltungen (ab 13.3.)
Bei insgesamt fünf Dialogveranstaltungen werden der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf und Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth, die als Bevollmächtigte des Generalvikars den Bereich von Aufarbeitung, Intervention und Prävention im Bistum Mainz verantwortet, in den Regionen des Bistums und einmal im Rahmen einer Online-Veranstaltung ab Montag, 13. März, zum Gespräch bereitstehen.

Die Termine im Einzelnen:
Montag, 13. März 2023, 19.30 Uhr
Pfarrzentrum St. Marien
Krafftstraße 21
63065 Offenbach

Donnerstag, 16. März 2023, 19.30 Uhr
Erbacher Hof
Grebenstraße 24-26
55116 Mainz

Donnerstag, 23. März 2023, 19.30 Uhr
Online-Veranstaltung

Freitag, 24. März 2023, 19.30 Uhr
Martinssaal in St. Bonifatius
Liebigstraße 20
35392 Gießen

Montag, 27. März 2023, 19.30 Uhr
Pfarrzentrum St. Michael
St. Michael-Straße 1
68642 Bürstadt