BIS BALD … steht seit fast vier Wochen auf einem Banner am Großen Haus des Staatstheaters. Ein leeres Theater – eine Zerreißprobe, jetzt nicht gegen das anspielen zu können, was um uns herum geschieht, so Intendant Markus Müller.
Eigentlich sollte in diesen Tagen das frisch gedruckte Jahresheft mit dem Spielplan für 2020/21 vorliegen, doch der Druck wurde vorerst gestoppt. Niemand weiß, wann wieder gespielt werden kann. Jede Verschiebung hat weitreichende Auswirkungen auf den Probenplan, die Disposition, die Verfügbarkeit der künstlerischen Teams. Aus diesem Grund kommt heute hier ein Spielplan 2020/21 ohne Termine und mit einer Video-Präsentation unter: https://vimeo.com/404953824/59869e1fd3 (Passwort:Stmz2020).
SCHAUSPIEL
Manches im Spielplan bekommt vor der Folie der aktuellen Lage eine zusätzliche, schärfer konturierte Dimension. Wir erleben gerade, dass ein politischer und gesellschaftlicher Diskurs komplett unter dem Mandat der gesundheitlichen Fürsorge stattzufinden hat. So vernünftig das ist — es erstickt die Stimmenvielfalt, von der Demokratien leben. Zeitgleich scheint sich Europa zu verabschieden, die Nationen ziehen sich auf sich selbst zurück und Autokraten nutzen die Gunst der gefährlichen Stunde. Der Begriff der Nation ist ein wichtiges Motiv im Schauspielplan 20/21, ebenso wie Texte, die sich mit einem Ausnahmezustand, sei er gesellschaftlich oder privat, auseinandersetzen — denn natürlich hat sich die dramatische Literatur immer für diesen besonders interessiert. Unser Alltag fühlt sich derzeit an wie eine einzige große Ausnahme, das gesellschaftliche Leben ist zum Stillstand gekommen. Für eine Gesellschaft von Individualisten, die gewohnt sind, über alles und vor allem über sich selbst frei verfügen zu können, und diesen Zustand zumindest unbewusst für unerschütterlich hielten, bedeutet das einen kulturellen Schock. Dabei vergessen wir, dass zumindest die Alten und Älteren unter uns sich noch an eine Welt im Ausnahmezustand erinnern können. Im Jahr 2020 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal, im Jahr 2021 die Reichsgründung zum 150. Mal. Zwei grauenhafte Kriege, Teilung und Wiedervereinigung — manche einschneidenden Ereignisse werden langsam aber sicher zu bloßen historischen Fakten, die an die Stelle von persönlichen Erinnerungen treten. Die Zeitzeug*innen der Kriegs- und Nachkriegszeit werden immer weniger, lange können wir sie nicht mehr befragen.
Also versichern wir uns im Schauspielplan der kommenden Saison der Zeugenschaft in der Literatur — Autor*innen insbesondere des 20. Jahrhunderts, die als literarische Chronist*innen ihrer Zeit für uns wertvoll sind. Denn wir spüren gerade in überfordernden Zeiten wie diesen, dass es hilfreich für die Gegenwart und erst recht für den Entwurf von Zukunft ist, die Vergangenheit nicht zu vergessen.
Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Anna Seghers, Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz sind solche Autor*innen, deren Werke wir aus genanntem Grund auf den Spielplan gesetzt haben. So unterschiedliche Töne sie anschlagen, ist ihnen zugleich gemein, dass sie sich in einer Poetik der kritischen Zeitgenossenschaft bewegen, ihre Texte mischen sich ein, beziehen Partei, sind kämpferisch, sprachmächtig und wirkungsvoll. Mutter Courage (Regie: K.D. Schmidt), Der Untertan (Regie: Christoph Frick), Transit (Regie: Brit Bartkowiak), Die bitteren Tränen der Petra von Kant (Regie: Pauline Beaulieu) und Nicht Fisch nicht Fleisch (Regie: K.D. Schmidt) und viele andere Stücke erzählen davon, was die gesellschaftlichen Bedingungen ganz konkret für die Figuren bedeuten, ihre Geschichten werden von und mit der Geschichte geschrieben — und umgekehrt. Ihre fiktiven Biografien wurzeln zugleich im Boden der sehr speziellen deutschen Historie. Das kann übrigens auch bei aller (oder vielleicht wegen aller) Realitätsspiegelung ausgesprochen komisch sein, wie in Sven Regeners Herr Lehmann in einer Inszenierung von Jule Kracht. Sprachmächtig und zugleich ein Spiel mit der Macht — und der Gewalt — der Sprache ist Friedrich Schillers Kabale und Liebe, das unser neuer Hausregisseur Alexander Nerlich im Großen Haus inszenieren wird.
Außerdem gehen wir Projekte an, die sich noch konkreter mit der deutschen Geschichte beschäftigen — die natürlich immer Teil der europäischen Geschichte ist. Der flämische Autor Stijn Devillè schreibt in unserem Auftrag ein Stück, das sich mit dem Versailler Vertrag und seinen Folgen auseinandersetzt, Hans Werner Kroesinger, bekannt für seine Theaterrechercheprojekte, wird sich künstlerisch dem Westwall widmen und Ensemblemitglied Denis Larisch der immer noch nicht überwundenen Fremdheit zwischen Ost und West.
Damit soll im Staatstheater Mainz auch für Künstler* innen der Raum geschaffen werden, neue Texte zu entdecken und zu entwickeln, Freiräume, in denen Autor*innen, Regisseur*innen und Ensemblemitglieder gemeinsam etwas ganz Neues schaffen — fünf Uraufführungen sind 20/21 im Schauspiel zu erleben.
MUSIKTHEATER
Die Eröffnungspremiere der Oper entstand genau in der Umbruchszeit der Reichsgründung, ihre Uraufführung 1873 wurde wegen der Wirtschaftskrise („Gründerkrach der Börsen“) mehrfach verschoben — Die Fledermaus von Johann Strauß wurde also geboren in einer Ausnahmesituation, womit wir wieder beim Thema wären. Die Sehnsucht nach kluger Unterhaltung wird bei uns durch die verordnete Vereinzelung unserer Zeit befeuert und so ist der Saisonstart mit einem rauschhaften Champagnerwerk Grund zur Vorfreude, die Produktion entsteht in Kooperation mit dem Staatstheater Nürnberg und der Opéra National du Rhin, die musikalische Leitung liegt bei Daniel Montané, es inszeniert Waut Koeken.
Danach wird es in der Opernsparte zeitgenössisch: Wie schon mit Perelà widmet sich das Staatstheater der Deutschen Erstaufführung einer französischen Oper. Entstanden 1937, ist dieses ungewöhnlicher Weise von zwei Komponisten (Arthur Honegger und Jacques Ibert) gemeinsam geschaffene Werk eine einzigartige Mischung aus Walzerklängen, Revolutionsliedern und französischer Musiksprache. L‘Aiglon ist eine Auseinandersetzung mit der grausamen Realität des Krieges — erzählt über die Geschichte des Sohnes von Napoleon, dessen Herrsch- und Kriegslust jäh stirbt, als er die Stimmen der Gefallenen hört. Generalmusikdirektor Hermann Bäumer steht am Pult, die Regie liegt in den Händen von Anselm Dalferth.
Neben zwei eher seltener gespielten Werken von Giuseppe Verdi (Ernani — Musikalische Leitung: Daniel Montané, Inszenierung: Barbora Horáková Joly) und Wolfgang Amadeus Mozart (La finta giardiniera — Musikalische Leitung: Christian Rohrbach, Inszenierung: Cordula Däuper) ist — wie im Schauspiel — auch das Programm der Oper 2020/21 geprägt durch Künstler* innen des 20. und 21. Jahrhunderts: Wolfgang Rihm, Claude Vivier sowie Isabel Mundry. Rihms Die Eroberung von Mexico werden im Großen Haus zu erleben sein und wir freuen uns auf ein Wiedersehen — und hören mit Robert Houssart als Dirigent und Elisabeth Stöppler als Regisseurin. Einem anderen Eroberer folgen wir an einen auch für uns neuen Ort: Claude Viviers Marco Polo wird in den noch leeren Räumen des neuen Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz (RGZM) Premiere haben (Musikalische Leitung: Hermann Bäumer, Inszenierung: Stefanie Hiltl). Im Dickicht von Isabel Mundry und Händl Klaus ist eine Uraufführung in Koproduktion mit den Schwetzinger SWR Festspielen, musikalisch geleitet von Samuel Hogarth und inszeniert von David Hermann.
Mit einem großen Werk des 19. Jahrhunderts stellt sich der neue Hausregisseur im Schauspiel, Alexander Nerlich, auch in der Oper vor: Carl Maria von Webers Der Freischütz gilt als der Inbegriff der romantischen Oper — und doch sind die Themen Glaube und Aberglaube, sozialer Druck und Versagensangst so weit weg nicht von unseren heutigen Nöten. Das Philharmonische Staatsorchester dirigiert Hermann Bäumer.
TANZ
Für tanzmainz stellt sich die Frage nach der Entstehungszeit der Werke weiterhin nicht, denn die erfolgreiche Tanzsparte wird als „Place of Creation“ auch weiterhin grundsätzlich originäre Werke erschaffen. Dafür aber stellt sich in allen Produktionen eine andere im Wortsinne existenzielle Frage – nämlich die nach der Identität. Ikarus will in der Choreografie von Felix Berner herausfinden, wie nah man denn nun der Sonne kommen kann — also: wie viel Risikobereitschaft es braucht, damit man über sich hinauswächst. The Cell des taiwanesischen Choreografen Po-Cheng Tsai bleibt nah am Menschen, an seinen vielen Facetten, die in einer Persönlichkeit miteinander ringen — dabei verbindet er zeitgenössischen westlichen Tanz, Urban Dance und asiatische Bewegungstraditionen. Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero sind seit ihrer gefeierten Produktion Hochzeit in Mainz keine Unbekannten mehr. Inspiriert von Igor Strawinskys Musik und gemeinsam mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz suchen sie in Le Sacre nach heutigen Entsprechungen des ungezügelten bäuerlichen Lebens — und werden fündig in der Subkultur des Londoner Nachtlebens. Vor der aktuellen Kulisse einer nie dagewesenen gesellschaftlichen und sozialen Abstinenz erscheint diese Feier der Freiheit fast schon wie ein utopisches Moment. wannabee (not) me von Willi Dorner ist die zweite Produktion des Staatstheaters für die neuen Räume des RGZM – eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit, mit der Suche nach dem eigenen Ich. Und mit Sphynx, der Uraufführung von Rafaële Giovanola, sind wir schließlich bei all dem Rätselhaften angelangt, das uns ausmacht und das sich im Bewegungsuniversum von uns Menschen ausdrückt — eine Einladung zum Perspektivwechsel.
JUSTMAINZ
Selbstverständlich erwartet auch Kinder und Jugendliche 2020/21 wieder ein voller Spielplan. Gleich zwei Familienstücke stehen auf dem Programm: Timm Thaler im Kleinen Haus und im Großen Haus Die Bremer Stadtmusikanten. Dazu kommen Produktionen aller Sparten auf allen Spielstätten — unter anderem mit dem Kindermusiktheater Wunderland und der oben bereits genannten Tanzproduktion Ikarus.
Auch wenn wir nicht wissen, wann wir wieder spielen können: Sicher ist, dass die Premieren, die in diesen Wochen ausfallen — von dem Musiktheater Al gran sole carico d’amore, das wir wenige Stunden vor der Premiere absagen mussten, über das Schauspiel Tage des Verrats bis zur Tanzuraufführung Welcome Everybody, dessen Titel gerade unangenehm ironisch klingt, nachgeholt werden, wenn nicht in dieser, dann in der nächsten Spielzeit!
BIS BALD
Wenn Meinungsfindung ausschließlich im Netz und in den Medien stattfindet, fehlt eine wichtige Dimension. Die kulturelle ebenso wie die politische Versammlung sind ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv, seit der antiken Agora ist die Kraft der Versammlung integraler Bestandteil der Demokratie. Und wir brauchen Theater, brauchen eine andere als die rein faktische Ebene, wollen uns an die Fersen von Figuren heften, die uns fiktives Erfahrungswissen voraushaben, wollen uns in den Stoffen aus allen Jahrhunderten abgleichen mit dem, was gedacht, erlebt und gedichtet wurde. Die Perspektive zurück auf die Entstehung einer Nation und ihre wechselhafte Geschichte, die wir vor allem im Schauspiel 2020/21 einnehmen, führt uns zu der Frage, was wir heute daraus machen. Wie gestalten wir Gesellschaft in einer Zeit, in der Soziologen uns als selbstinszenierungssüchtige Singularitäten beschreiben? Und wie wird unsere Welt nach diesem Ausnahmezustand, in dem wir soziale Distanz verordnet bekamen, aussehen? Sicher ist: Wir werden wieder spielen und wir werden das Theater brauchen, wenn wir bald, hoffentlich sehr bald, auf diese Zeit zurückblicken.