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Spurenleser im Niemandsland – Der Mainzer Historiker Andreas Rödder

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von Ejo Eckerle

Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche geschieht – ganz im Sinne dieser aristotelischen Erkenntnis blickt Andreas Rödder in die Zukunft. Vielleicht sitzt der 48-jährige Historiker deshalb so entspannt im Wohnzimmer seines Gonsenheimer Einfamilienhauses.

Dass hier Bildungsbürger wohnen – Rödders Frau ist Gymnasiallehrerin –, lässt sich unschwer an der umfangreichen Büchersammlung erkennen. Im Regal stehen nicht nur Werke zur Geschichte, sondern auch jede Menge Belletristik. Dass Rödder ein Vielleser ist, lässt sich auch so erahnen. Wer sein neuestes Werk  „21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ zur Hand nimmt, findet am Ende eine umfangreiche Literaturliste. Rödder, der Neueste Geschichte an der Uni lehrt, analysiert darin die historische Entwicklung nicht nur unseres Landes, sondern der gesamten westlichen Welt. Der große, umfassende Blick liegt ihm. Bereits 2009 hat er mit „Deutschland einig Vaterland“ die erste wissenschaftliche Gesamtschau der deutschen Revolution von 1989 vorgelegt.

Die Muster der Geschichte

Als  „21.0“ erscheint, überschlagen sich die Rezensenten mit Lobpreisungen:  „furios“,  „brillant“ heißt es und als  „ein veritabler Arbeitsspeicher für das geplagte Kurzzeitgedächtnis“ wird der 500-Seiten- Wälzer bezeichnet. Der Band bietet einen historischen Crashkurs durch die Grundprobleme der Gegenwart: Wie sind sie entstanden und woher kommen sie? Was ist wirklich neu – und was sind Muster, die wir aus der Geschichte kennen? Was sind die wichtigsten Entwicklungen der Gegenwart und welche Richtungen zeichnen sich für die Zukunft ab?

In acht Kapiteln betrachtet der Autor die Ursachen und Folgen menschlichen Handelns im 21. Jahrhundert: wie die Digitalisierung in unser Denken und unsere Wahrnehmung Eingang gefunden und beides verändert hat. Was den Aufstieg Europas begründete – und welche Schwächen den Kontinent heute plagen. Warum neue Lebensmodelle entstehen, aber traditionelle wie die Familie deshalb nicht verschwunden sind. Dass sich zum Beispiel so etwas wie die AfD bilden konnte, hält Rödder für eine logische Folge, die es in der Geschichte der Bundesrepublik schon mehrmals gegeben hat, etwa als in den 80er-Jahren die Grünen aufkamen, mit ihrer Kritik am Wachstums- Fetischismus oder der Aufstieg der Linken.

Das, was wir als stabile politische Verhältnisse ansähen, ist für den Historiker eher ein Sonderfall. Mit das größte Problem sieht er in der Wiederkehr von „hard power“, also der gewaltsamen Lösung von Machtfragen: „Im Konflikt in der Ukraine ist militärische Macht- und Mächtepolitik zurückgekehrt. Noch größere Gewaltpotenziale offenbaren sich in der Ausweitung fundamentalistisch-islamistischer Regime im Nahen Osten und in Nordafrika – das sind die bad news aus der Geschichte der Gegenwart.“

Optimismus-Pflicht

Dennoch fällt an Andreas Rödder ein tief verwurzelter Optimismus auf, der so ganz im Gegensatz zu den verkniffenen politischen Diskussionen steht, wie sie sich hierzulande immer wieder in Talkshows und Parlamentsdebatten niederschlagen. Der Historiker ist keiner, der sich in seinem Fach eingegraben hat. Er blickt nach links und rechts und zeigt sich offen für gesellschaftliche Strömungen:  „Das sind die Fragen dieses Buches, und sie führen in ein wissenschaftliches Niemandsland. Es liegt zwischen der Domäne der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und dem Terrain der Geschichtswissenschaften“, schreibt er in seinem Vorwort. Klare Antworten in komplizierten Zeiten könne man nicht erwarten. Er stellt deshalb lieber mehrere Möglichkeiten zur Diskussion.

Abenteuerreise Bildung

Der Hochschullehrer weiß natürlich auch um die Herausforderungen, die im zulassungsfreien Studienfach Geschichte stecken. Doch blickt er wohlwollend auf die heutige Studierendengeneration:  „Meine besten Studenten sind um vieles besser als ich es je zu meiner Studienzeit war.“ Seine eigene Studentenzeit beschreibt es als eine  „große geistige Abenteuerreise namens Bildung“ – was zu Zeiten, als noch nicht das enge Korsett der Bachelor-Programme den Alltag an den Unis bestimmte, sicher auch etwas einfacher war als heute.  „Ich habe mich in eine Art Bildungsrausch begeben, der bis zum Examen nicht mehr nachgelassen hat.“ Der gebürtige Westerwälder zog 2005 mit Mainz in der großen Professorenstellen-Lotterie, die gerade mal 64 Chancen – sprich historische Institute an deutschen Universitäten – bietet, ein ziemlich gutes Los. wie er findet.

Offenheit statt Selbstgewissheit

Rödder ist dennoch ein klassischer Konservativer. Daraus macht er kein Geheimnis. Im Kompetenzteam von Julia Klöckner hatte er im letzten rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf seinen festen Platz. Wäre der CDU der Regierungswechsel gelungen, hätte Rödder gute Aussichten auf den Posten des Kultur- bzw. Wissenschaftsministers gehabt. Dennoch verschont er seine eigene Partei nicht mit Kritik:  „Merkels Politik der exekutiven Alternativlosigkeit, in der der nötige Streit über Alternativen nicht stattfindet, ist ein großes Problem.“ Die Hoffnung auf eine bessere Welt hat Rödder trotz intensiver Beschäftigung mit den Krisen der Vergangenheit und Gegenwart nicht aufgegeben:  „Was als Kompass hilft, ist Offenheit statt Selbstgewissheit. Das gilt für unvorhergesehene Gefahren, für neue Bedrohungen der Freiheit oder für unerwartete Konflikte.“

Foto: Martin U. K. Lengemann / Welt N24