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So wohnt Mainz: Kunstvolles Schachtelwerk in der Augustinerstraße (Altstadt)


von Monica Bege, Fotos: Frauke Bönsch

Übereinander gestapelt, ineinander geschoben und hintereinander aufgereiht – mal Türmchen und mal Schlauch. Die verwinkelte Raumanordnung erstreckt sich auf drei Etagen, ist mit engen steilen und noch dazu gewundenen Stiegen verbunden. „Man schraubt sich quasi die Treppe runter“, witzelt Gerhard Meerwein. Er muss es wissen, seit fast vier Jahrzehnten wohnt er hier in der Augustinerstraße.

Gemauert ist nur das an ein Ladengeschäft vermietete Erdgeschoss, darüber hinaus weisen die Holzbalken einer jahrhundertealten Fachwerkkonstruktion eine kreative Raumgestaltung in ihre Schranken. „Sechs Quadratmeter misst das kleinste und Dreizehn das größte Zimmer“, skizziert Meerwein die Grundstruktur. Türen sind nur noch in Bad und Schlafzimmer vorhanden, hier und da sind die Wände durchbrochen – interessante Durchblicke entstehen und verleihen dem Gefüge eine optische Weite. Von der betörenden Einfachheit der ersten Begegnung im Jahr 1974 ist heute nichts mehr zu sehen, verschwunden sind die beiden Kaltwasser-Sandsteintröge und das einfache Wasserklosett neben der Hauseingangstüre. Meerwein plante und sanierte mit Fachkenntnis aus erster Hand. Nicht nur auf seine Tätigkeit als freier Architekt, Innenarchitekt und Farbdesigner blickt der heute 68-Jährige zurück, auch auf eine 35-jährige Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Mainz im Bereich Entwurf, Konstruktion, Gestaltung und Bühnenbild. Eigentlich stellt sich seinem Namen noch ein Professorentitel voran, aber auf den legt er nicht so viel Wert.

Ein Zuhause für die Kunst
Winkel und Ecken im Überfluss, dafür fehlt es an Fenstern und die vorhandenen sind noch dazu meist klein. Gerne hätte der ehemalige Dozent seine Kenntnisse aus Raum- und Farbgestaltung in die Praxis umgesetzt, doch die äußeren Gegebenheiten lassen an den Wänden nur das klassische raumerhellende Weiß zu. Und auf diesem tummeln sich außergewöhnlich viele Collagen: groß, klein, dezent und markant, mehr davon stehen im Arbeitszimmer – rund 300 Werke. An den Bilderhaken im Fachwerkhaus wechseln sie sich ab und werden auch, wie unlängst im Essenheimer Kunstverein, immer wieder ausgestellt. Meerwein sammelt Collagen seit Anfang der siebziger Jahre. Zu dieser Zeit betrieb er eine Galerie gegenüber der St. Ignaz-Kirche. Sie lief jedoch nicht – Melancholie liegt im Rückblick. Es wäre sein Traumberuf gewesen: „Die kulturelle Diasporasituation hier führt bei zu vielen Galerien zur resignierten Aufgabe“, begründet er seine damalige Entscheidung und daran habe sich bis heute nicht viel geändert. Länger schon engagiert er sich im Mainzer Kunstbeirat, lässt so den Ruf nach mehr Raum für Kunst nicht verstummen. Meerwein collagiert auch eigene Werke, ein Atelier befindet sich im kleinen Hinterhaus. Die Inspiration geht von alltäglichen und zufälligen Materialien aus. Die rückwärtige Klebeseite eines Plakates fasziniert ihn mitunter mehr als die Vorderansicht. „Ich zeichne, damit ich sehe, was ich denke“ – ein Prinzip, mit dem er auch seine eigenen Studenten zum Nachdenken anregte.

Die schiefe Perle
Uromas Sekretär ist eines der wenigen „normalen“ Möbelstücke. Der große Rest schmiegt sich elegant und passgenau wie ein Maßanzug an die schiefen Wände der kleinen Räume an. Zusätzliche Kanten werden vermieden, vorhandener Platz ist optimal und mit Finesse ausgenutzt: Fast unmerklich läuft der hohe Schrank im Flur schräg zu – links gerade mal Taschenbuchtiefe, rechts hingegen ausreichend Stellfläche für großformatige Bildbände. Die äußeren Enden des Esstisches können durch Abklappen verjüngt werden und erleichtern so das alltägliche Umrunden. Die zentral gelegene Kochnische bezeichnet Meerwein liebevoll als Cockpit-Küche, in der Mitte stehend ist wirklich alles erreichbar. Und durch die Platte des vorgebauten Küchentresens bahnen sich drei senkrecht angebrachte Heizungsrippen elegant ihren wärmenden Weg. Meerwein genießt die Vorzüge, zentral zu wohnen. „Die Wohnung hat den Charakter eines kleinen abgeschlossenen Einfamilienhauses mitten in der Stadt und die drei Gehminuten zur Arbeit waren ein zusätzliches Argument.“ Außerdem sei er vor seinem Kauf zunächst als Mieter eingezogen und konnte sich so mit den verschachtelten Räumen unverbindlich anfreunden, bevor er sie zur heutigen „Stadtperle“ herausputzte.