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Nie wieder Sushi?


Der renommierte Strahlenbiologe Edmund Lengfelder im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau über belasteten bayrischen Schweinsbraten, das schreckliche Schicksal der Männer in den Fukushima-Reaktoren und die Vergiftung der Fischbestände im Pazifik.

Herr Lengfelder, essen Sie noch Braten vom Wildschwein, das in Bayern geschossen wurde?

Ich habe ein paar Jäger in meinem Bekanntenkreis, deren Jagden weit weg von den durch Tschernobyl belasteten Gebieten sind. Und wenn ich zwei oder dreimal im Jahr Wildschweinbraten essen will, dann wird der systematisch auf Verstrahlung untersucht. Ich werde immer sicherstellen, dass keine Becquerel aus Tschernobyl in meinen Leib kommen.

Wie viel Becquerel könnten denn noch drin sein im Braten?

Es können 1000 Becquerel und mehr sein.

Ab welchem Wert sind Becquerel dem Menschen gefährlich?

Ich kann nur mit einem Vergleich antworten: Ab wie viel gerauchten Zigaretten wird es für den Menschen gefährlich – hier sollte man auch an kleine Kinder denken, auch ans Passivrauchen.

Welche Gebiete in Bayern sind besonders belastet?

Zum Beispiel im Bayrischen Wald der Streifen entlang der tschechischen Grenze, das Berchtesgadener Land, südlicher Landkreis Miesbach und eine große Zone westlich von Augsburg – überall dort, wo es Ende April 1986 starke Regenfälle und Gewitter gab.

Wildbret, Beeren und Pilze aus den Wäldern dort sollten wir also immer noch nicht essen?

Beeren sind nicht so tragisch. Aber Pilze können noch deutlich hoch belastet sein. Besonders der Maronenröhrling, weil der ein Mehrfaches der Cäsiumnuklide aufnimmt, anders als Pfifferlinge und Steinpilze.

Würden Sie Milch aus der Region trinken?

Für Milch gibt es bei uns einen Grenzwert von 370 Becquerel pro Liter, der kontrolliert wird. Allerdings sind Grenzwerte grundsätzlich nicht die Grenze zwischen schädlich und unschädlich. Mit dem Grenzwert toleriert der Gesetzgeber aus wirtschaftlichen Gründen bereits ein gewisses kleines, mögliches gesundheitliches Schadensausmaß. Deshalb ist es sinnvoll, auf Kontaminationswerte weit unterhalb der Grenzwerte zu achten.

25 Jahre nach Tschernobyl glauben viele Menschen gar nicht, dass es bei uns in Deutschland noch so hoch belastete Zonen gibt. Warum haben wir so schnell vergessen?

Wissen, das nicht dem Vergessen anheimfallen soll, muss ständig wiederholt werden. Das ist ja nicht anders als beim Einmaleins. Wenn Sie 25 Jahre nicht gerechnet haben, müssen Sie bei den Grundrechenarten wieder nachdenken. So ist der Mensch gestrickt. Was wir als Standardwissen gebrauchen wollen, müssen wir uns ständig wieder in Erinnerung rufen. Unsere Jugend weiß ja nur noch wenig über die Katastrophe in Tschernobyl, nur wenige der Alten haben noch darüber geredet. Und unsere Politiker, die Atomenergie fördern, haben überhaupt kein Interesse daran, die Erinnerung wachzuhalten.

Die meisten von uns haben weggeguckt und blicken jetzt voller Furcht und Schrecken auf die Apokalypse in Japan. Brauchen wir Katastrophen, um uns der Gefahren bewusstzuwerden?

Der Mensch ist so gebaut, dass er unangenehme Wahrheiten verdrängt. Das wird heutzutage noch verstärkt durch die ungeheure Flut von Eindrücken und Informationen, sei es über Fernsehen und Rundfunk, Internet und Handy. Aber wenn wir uns nicht mehr erinnern können, dann können wir aktuelle Krisen, wie jetzt in Japan, auch nicht mehr einschätzen.

Das stimmt. Dann frage ich Sie als Strahlenbiologen, was bedeutet es, dass Japans Regierung die Grenzwerte der gesundheitsgefährdenden Strahlung für die Männer, die in den Reaktoren von Fukushima arbeiten, von 100 Millisievert auf 250 Millisievert hochgesetzt hat?

Grenzwerte gelten für diese Männer sowieso nicht mehr. Uns hilft wieder ein Blick nach Tschernobyl. Die Sowjets haben damals 800 000 zumeist junge Soldaten eingesetzt, beginnend von den unmittelbaren Schutzversuchen am havarierten Reaktor bis zur Evakuierung der Bevölkerung und dem Waschen von Städten.

Was heißt „Städte waschen“?

Die jungen Männer sind durch die Orte gezogen, haben Häuser abgewaschen, Farbe abgekratzt und Putz abgeklopft in der Hoffnung, die Städte und Dörfer wieder bewohnbar zu machen. Denn der Neubau einer Stadt kostet sehr viel Geld und dauert Zeit. Auf den Reaktor selbst wurden Männer geschickt, die waren mit Bleischürzen am Körperstamm notdürftig geschützt. Sie durften dort wegen der extrem hohen Strahlung nur jeweils 45 Sekunden arbeiten. Für die japanische Regierung und die Betreiberfirma der Fukushima-Reaktoren tritt das Leben der Männer in den Hintergrund. Das ist wie im Krieg, da werden auch Menschenleben geopfert für ein angeblich höheres Ziel.

Welche Strahlendosis haben die Liquidatoren, wie man die Soldaten im Ersteinsatz nennt, in Tschernobyl abbekommen?

Das waren Werte bis 15.000 Millisievert.

Werden die japanischen Liquidatoren sterben?

Wir wissen, dass sie in einem Strahlungsfeld von 400 Millisievert pro Stunde Strahlendosis gearbeitet haben. Es ist etabliertes und in Tschernobyl bestätigtes Wissen, wenn eine Gruppe von zehn jüngeren Leuten zwölf Stunden einer solchen Dosisleistung ausgesetzt ist, werden 50 Prozent davon, also fünf Männer, den akuten Strahlentod sterben.

Wie müssen wir uns den vorstellen? Brechen die Männer einfach zusammen?

Nein. Wir haben in unserem Körper ein paar Organe, die sind besonders strahlenempfindlich. Dazu gehört das rote Knochenmark, der Ort, wo unser Blut gebildet wird. Strahlenempfindlich sind auch die feinen Blutgefäße und die Epithelien, also die Schleimhäute, beispielsweise des Magen-Darmtrakts. Wenn die durch die Strahlung zerstört werden, gelangen Millionen Bakterien aus dem Darm und vergiften den Menschen von innen. Durch Zerstörung des blutbildenden Systems kollabiert das Immunsystem.

Welche Symptome zeigen sich?

Zuerst wird es dem Menschen übel und schwindlig. Lebenswichtige Funktionen brechen zusammen. Man kann versuchen, diese Menschen auf Intensivstationen noch eine Weile am Leben zu erhalten. Sie werden aber in der Regel nicht mehr gesund. In Tschernobyl sind einige hundert der Liquidatoren in wenigen Wochen nach der Kernschmelze gestorben, obwohl sie medizinisch behandelt worden sind.

Was geschieht mit den anderen 50 Prozent, die nicht am akuten Strahlentod sterben werden?

Ihre Leistungsfähigkeit sinkt und ihr Krebsrisiko steigt massiv.

Wie ist das heute in der weißrussischen Stadt Gomel, wo Sie eine Klinik aufgebaut haben? Woran leiden die Menschen heute noch?

Die Strahlendosen der Allgemeinbevölkerung reichten von 20 bis 500 Millisievert. Schilddrüsenkrebs der unter 18-Jährigen war in den ersten 13 Jahren nach Tschernobyl um das 58-fache erhöht. Bei den Erwachsenen nahm bis heute der Schilddrüsenkrebs um das Fünf- bis Sechsfache zu. Auch bei anderen Krebsarten ist immer noch eine Erhöhung zu verzeichnen. Neben den Karzinomen kommt eine Vielzahl ernster anderer Erkrankungen dazu.

Die Liquidatoren in Japan sind anders als die in Tschernobyl mit Strahlenschutzanzügen ausgerüstet. Hilft ihnen das nicht?

Die Anzüge, die es zum Teil in Tschernobyl auch gab, schützen nur vor der Kontamination mit Radionukliden direkt auf der Haut. Aber gegen Gamma-Strahlung helfen sie überhaupt nicht, doch diese Strahlen lösen vor allem die Strahlenkrankheit aus. Gammastrahlung geht durch Stahl, durch Beton. Sie bräuchten einen zentimeterdicken Bleianzug. Aber den könnte kein Mensch tragen, er würde zusammenbrechen. Ein Bleiziegel in der Größe eines normalen Ziegels wiegt 30 Kilogramm. Vor Gammastrahlen kann man sich nur schützen, indem man sich nur sehr kurz in der Gefahrenzone aufhält.

Die japanische Regierung hat um den Reaktor eine Schutzzone von 30 Kilometern eingerichtet und die Menschen von dort evakuiert. Reicht diese Maßnahme?

Wir wissen, dass es Hunderttausende sind, die jetzt aus der Zone weggebracht wurden. Die Leute brauchen Wärme, in Fukushima schneit es. Sie brauchen Essen, Toiletten und vor allem Zuwendung, also soziale Betreuung. Das ist ja eine extreme Stresssituation, über Tage und Wochen hinweg mit Tausenden zu campieren. Und wie man hört, fehlt es den Menschen in den Unterkünften an allem, sie frieren, sie hungern.

Werden die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können?

Das können wir erst beantworten, wenn die Verstrahlungen der Gebiete gemessen wurden. In Tschernobyl war die Sperrzone 60 Kilometer im Durchmesser. Aber fünf Jahre nach dem Reaktorunglück sind in 140 Kilometer Luftlinie zum Reaktor in einem Landkreis in Weißrussland noch so hohe Strahlendosen gemessen worden, dass dort die Menschen evakuiert werden mussten. Sogar 400 Kilometer von Tschernobyl mussten ganze Ortschaften geräumt und später dekontaminiert werden und wurden erst 1992 wieder besiedelt.

Wie dekontaminiert man solche Regionen?

Wenn noch nicht viel Zeit nach der Havarie vergangen ist, muss man fünf bis zehn Zentimeter Boden abtragen. Je länger man wartet, desto tiefer dringen die Radionuklide ein, abhängig natürlich von der Bodenbeschaffenheit. Wenn man Humusboden hat, bleiben sie da sehr lange oben. In Sand dringen sie schneller ein. Und die Häuser müssen alle abgewaschen, Straßen neu geteert werden. Das ist alles sehr aufwendig und teuer. Man muss also überlegen, ob man den Standort aufgibt oder dekontaminiert.

Ist diese Entscheidung in einem so dicht besiedelten Land wie Japan nicht sehr schwer?

Absolut. Die Besiedlungsdichte in Japan ist rund 20 mal höher als in Weißrussland oder in Tschernobyl. Das heißt: 20-mal mehr Leute sind von der Bestrahlung betroffen – egal wie hoch die Strahlung ist. Das Krebsrisiko lässt sich abschätzen, indem man die Strahlendosen, die auf den einzelnen Menschen über einen bestimmten Zeitraum einwirken, multipliziert mit der Zahl der Personen, die betroffen sind. Diese Zahl nennen wir Wissenschaftler Kollektivdosis. An ihr können wir abschätzen, wie viele Menschen an Krebs erkranken und sterben werden. Bislang haben wir aus Japan aber überhaupt keine Werte.

Wie lange dauert es, bis ein verstrahltes Gebiet wieder besiedelt werden kann?

Es gibt eine Faustregel: Bei einem Leitnuklid wie Cäsium 137 beträgt die Halbwertszeit 30 Jahre. Es braucht zehn Halbwertszeiten, damit man ein Gebiet wieder besiedeln kann, also insgesamt 300 Jahre. Aber in Japan kommt ja noch eine Schwierigkeit hinzu: Bei der Kernspaltung entstehen radioaktive Stoffe, man nennt sie das radioaktive Inventar eines Reaktors. In einem Siedewasserreaktor wie in Fukushima ist dieses Inventar 30 bis 40 mal so hoch wie in Tschernobyl, es kann demzufolge auch viel mehr Strahlung entweichen. Wenn wir es zusammenfassen: In Japan sind mehr Menschen betroffen, weil die Besiedlungsdichte höher als in Tschernobyl ist und es gibt eine höhere Verstrahlung.

Japan hofft, dass ein Großteil der Nuklide vom Wind auf das Meer getrieben wird. Aber was geschieht dort damit?

Nicht alles wird zu 100 Prozent aufs Meer hinausgeblasen. Die Japaner haben ja im 200 Kilometer entfernten Tokio schon erhöhte Strahlung gemessen. Die hat sich ja nicht in Luft aufgelöst, sondern wirkt auf die Menschen, auf die Natur. Der Wind bläst nicht immer konsequent aufs Meer. Die Nuklide, die vom Festland weggeblasen werden, senken sich irgendwann auf die Wasseroberfläche, werden von Fischen und anderen Meerestieren aufgenommen und gelangen über die Nahrungskette wieder zum Menschen. Das ist sehr fatal für eine Nation, die sich viel von Fisch ernährt. Nie wieder Sushi, könnte man sagen. Jedenfalls nie wieder, ohne dass vorher die Strahlung wie bei meinem Wildschweinbraten gemessen wird. Und das ist alles sehr teuer.

Wie können wir den Japanern helfen?

Wir müssen alle Atomkraftwerke abstellen, auch bei uns. Die Bundeskanzlerin und ihre Gefolgsleute müssen aufhören, nur die wirtschaftlichen Interessen der Energiewirtschaft zulasten der Lebensgrundlagen der Bevölkerung zu bedienen.

Abschalten unserer Atomkraftwerke ist eine Seite, aber wie können wir den Japanern direkt unter die Arme greifen?

Wir können unseren Rat, unsere Erfahrungen in der Behandlung von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland anbieten. Unser Institut wird sich aber nicht in Japan engagieren, das schaffen wir nicht. Wir haben noch so viel in Weißrussland zu tun. Die wichtigste Lehre aus Japan ist: Auch ein westliches hoch technisiertes Land kann seine Bürger nicht angemessen schützen bei einem Super-GAU. Deswegen muss man diese Gefahr wegnehmen, und zwar sofort!

Interview: Katharina Sperber