Text: Wolfgang Klein, Illustration: Lisa Lorenz
Nachdem der Weltuntergang nochmal abgewendet wurde, folgt nun der Ausblick ins Jahr 2032 für Mainz. Von Kolibridrohnen, Haushaltsrobotern und der Energiekrise – doch wir leben noch!
Heute Morgen fühle ich mich gar nicht gut. Ich liege auf dem Rücken in meinem Bettchen und kann nicht aufstehen. Irgendwie fühlt sich mein Rücken so anders an. So hart. Wie mit Beton gefüllt! Ich versuche witzig zu sein und murmele etwas von einer großen, dicken Schildkröte, die auf dem Rücken liegend nicht mehr aufstehen kann. Leider habe ich keinen Panzer und kann die Schmerzen nicht abwehren. Das Erste, was meine halb geöffneten Augen sehen, ist ein faltiges, schrumpeliges, leidend blickendes Gesicht. Was für ein Schock, mich so im Spiegel zu sehen: Meine wenigen Haare stehen nach allen Seiten ab – ähnlich eines geplatzten Igels – und ein uraltes, von Sorgen zerfurchtes und von Gram zerfressenes Gesicht blickt mich an. Irgendwie passt dieses Gesicht nicht zu mir. Ich beschließe, Robi zu holen. Er ist mein 1,20 Meter großer Haushaltshilfsroboter, der mich seit Jahren durchs Leben begleitet. Ein Roboter der letzten Generation voller Schnickschnack. Leider haben mir die Stadtwerke Mainz gestern Nachmittag um 16.49 Uhr den Strom abgestellt und Robi hat jetzt keinen Lebenssaft mehr. Leider reichen meine Solarzellen nicht aus, um all meine elektronischen Geräte mit Strom zu versorgen. Computer sind tot, wenn sie keine Energiequelle nutzen können. Sie sind nicht in der Lage, eigenständige Ideen zu entwickeln und können unmöglich mit einem Menschen in eine nicht vorprogrammierte Kommunikation treten. Ohne Strom, ohne Software – und ohne die Vorarbeit eines Menschen – sind Computer nichts anderes, als leblose Blechhaufen mit einem maschinell gelötetem Innenleben. Sie sind noch nicht einmal in der Lage, eins und eins zu addieren, wenn ihnen der Mensch nicht zuvor den Rechenweg vorgeschrieben hat.
Vom Muezzin zur Eigenbau-Drohne
Ich öffne mühselig das Dachfenster und genieße die frische Luft. Unglaublich, wie still es ist. Ich wünsche mir oft, in einem einsamen Wald zu leben, nicht mitten in Mainz. Noch vor zwanzig Jahren hörte man – und das rund um die Uhr – das Brummen der Autos von den nahen Stadtautobahnen, Flugzeuge, die im Zwei-Minuten-Rhythmus in Frankfurt starteten oder landeten, zahlreiche Züge und vor allem war da der leckere Kaffee-Geruch aus Mombach. Jetzt riecht man nichts mehr, man hört aus dieser Gegend nur noch den Muezzin, wenn er zum Gebet ruft. Manchmal höre ich noch, wie ein Auto durch das einzige Loch in unserer Straße fährt. Da gibt es dieses dumpfe Geräusch, das entsteht, wenn’s einem die Stoßdämpfer durchhaut. Ich liebe dieses Geräusch. Seit auf den Mainzer Straßen aber 90 Prozent Elektroautos herumfahren, ist mir der total geräuschlose Verkehr ein Dorn im Ohr. Dafür hasse ich das Surren der Drohnen, die sie neuerdings durch die Lüfte schicken. Drohnen im Polizeieinsatz kennt man seit einigen Jahren, aber seit das Finanzamt und die Gerichtsvollzieher auch die Spione der Lüfte verwenden, fühle ich mich unwohl in meiner Haut. Diese musste ich vor einiger Zeit verteidigen als einer meiner Nachbarn oder Konkurrenten mich bespitzelte. Gerade diese Baumarkt-Selbstbau-Drohnen sind mittlerweile eine Pest und haben sich zum Hobby von selbst ernannten Spionen entwickelt. Der Typ hatte mich angezeigt, dass ich meinen Müll nicht trenne. Mehr hatte der Feierabend IM nicht gefunden. Da kriegen die Maulwürfe Flügel. Fies sind vor allem die kleinen Kolibris. Die sind so echt, dass man denkt, man ist irgendwo in der Karibik. Leider sitzt am anderen Ende dieses „Vogels“ jemand vor einem Bildschirm und beobachtet das Ziel. Der Robotervogel bewegt sich so täuschend echt vorwärts, rückwärts oder seitwärts, dass man nur das gleichmäßige Surren seiner Flügel wahrnimmt. Der Blechvogel wiegt sogar so wenig wie ein echter Kolibri und besitzt auch noch die gleiche Flügelspannweite. Da er mir mit seinem Surren auf die Nerven geht und meine morgendliche Ruhe stört, schließe ich mein Fenster und ziehe den Rollladen runter. Ätsch!
Körperanalyse im Eigenheim
Auf dem Weg ins Bad beschließe ich, meine Schulden bei Gazprom noch heute zu begleichen. Doch das erweist sich leichter gesagt als getan. Meine Toilette meldet nämlich Alarm! Zu viel C12H22O11 im Blut. Ich bin erleichtert – nur Zucker. Dachte eher, dass ich zu viel getrunken hätte. Immerhin hat Mainz 05 gestern die Champions League gewonnen. Trainer Roman Neustädter und Bundestrainer Klopp haben einen ausgegeben. Hurra, ich kann mich wieder erinnern. Wir hatten das 3:1 gegen den FC Barcelona ordentlich gefeiert. Auf dem Heimweg aus der juwi-Arena hatte ich mich im Windräderwald Bretzenheims verlaufen und war am Lerchenberg angekommen. Ich hatte die kleinen roten blinkenden Lichter der Windräder wohl für Flugzeuge gehalten und war diesem „Pfad“ wie gewohnt gefolgt. Leider hatte ich nicht bedacht, dass die Flieger jetzt im Sturzflug landen und man sie deshalb nicht mehr hören kann. Ich bin eben ein Gewohnheitstier. Mein Segway hatte ich lieber stehen gelassen Immerhin hatte ich zwei Bier getrunken. Ich vertrage dieses chinesische Zeug nicht. Scheint aber Zucker zu enthalten. Zu viel Zucker, sagt mein WCAnalyst. Zum Glück habe ich keinen Strom und seine Batterien sind zu schwach, sonst hätte er den Notarzt gerufen. Drahtlos würde er die Daten an die Zentrale schicken und die würden mich abholen. Eingewiesen von einer Kloschüssel! Na Prosit. So schleppe ich meinen Astralkörper in den Keller. Irgendwo habe ich einen Stromgenerator versteckt. Die sind neuerdings verboten. Verbrauchen zu viel Sprit. Der ist knapp und vor allem teuer – sehr teuer. Die neuste Treueaktion der Tankstelle um die Ecke: Nach zehn Mal tanken gehört das Auto Ihnen! Immerhin ein echtes Auto. Kein Wunder bei dem Dieselpreis! Zum Glück habe ich für Notfälle noch ein wenig von dem schwarzen Gold übrig und kann mein schlaues Haus wieder zum „Denken“ bringen. Dass die Sensoren alle Fenster öffnen werden, weil im Inneren schlechte Luft herrscht, das muss ich riskieren, denn ich brauche etwas zu Essen, muss einen Kaffee trinken und mir den Kater aus dem Gesicht waschen. Doch es kommt ganz anders. Robi erwacht zum Leben und nachdem er sich mit meinem Handy, der Waschmaschine, dem Kühlschrank, dem Bügeleisen, Eierkocher, der Kaffeemaschine, dem Staubsauger, der Toilette, sämtlichen Sensoren und Computern ausgetauscht hat, meldet er: „Gebieter, die Fenster bleiben heute geschlossen. Es hat Westwind eingesetzt und die Strahlung ist zu gefährlich!“ Seit in Cattenom nach einem Erdbeben zwei Reaktorblöcke in die Luft geflogen sind, haben wir das immer bei Westwind. Ministerpräsidentin Eder meinte neulich: „Wie gut, dass wir da raus sind und auf regenerative Energien gesetzt haben …“ Ja und? Das ließ aber die beiden französischen Reaktorblöcke völlig unbeeindruckt. Wahrscheinlich verstehen die kein Deutsch.
Das Mainzer System zahlt sich aus
Deutsch versteht die Dame bei Gazprom im ECE Einkaufszentrum: „Ja, sie müssen persönlich erscheinen und bar bezahlen, da ihr Konto nicht gedeckt ist!“ Meine Bedenken, dass es draußen windig ist, teilt sie nicht. „Hier ist so viel los …“ Das ist ja mein Problem. Als der damalige Bürgermeister Ebling den Umbau der Ludwigstraße beschloss, warfen sie ihm die Zerstörung der Innenstadt vor. Doch es kam anderes. Nachdem die Leute Ende der 90er aufs Land gezogen waren und so automatisch auf der grünen Wiese einkauften, war der Stadt viel Kaufkraft abhanden gekommen und der Leerstand nahm zu. Für viele war es eine Frage der Zeit, in der Mainz zur vollständigen Schlafstadt verkommen würde. Doch durch die immer teureren Energiepreise wurde die Stadt wieder attraktiv. Kurze Wege sparen Energie. In Mainz gibt es alles, was man zum Leben braucht, egal wie alt man ist. Ein breites Freizeitangebot für die zahlreichen, jung gebliebenen Älteren, Kitas um die Ecke, Gesundheitsversorgung und ein gutes Kulturangebot, Schule und Arbeitsplatz ohne Zweitwagen erreichbar und das alles bezahlbar! Die zahlreichen Supermärkte zogen vom Stadtrand wieder in die Innenstädte, zahlreiche Tante Emma Läden schossen wie Pilze aus dem Boden, Bank und Post eröffneten wieder Filialen und so gab es auch für die ältere und nicht mehr so mobile Bevölkerung wieder die Möglichkeit, ihre Lebensqualität zu steigern. Trotz Energiekrise oder genau deshalb ist die Stadt die Gesellschaft von morgen! Das trifft auch auf Mainz 2032 zu. Es ist den Stadtvätern von Mainz gelungen, den rasanten Wandel, den technischen Fortschritt, die Globalisierung, die digitale Vernetzung für ihre Zwecke zu nutzen und ein neues „Mainzer Betriebssystem“ zu schaffen. Nach dem Motto: „Hurra, wir leben noch!“, hat man sich organisiert und trotz weniger Arbeit konnten die Einnahmen der Stadt gesteigert werden. Die Johannes Gutenberg- Universität hat ihr System geändert. Die Studienzeiten wurden verdoppelt, um das Auswendiglernen abzuschaffen und das Mitdenken zu fördern. Bei immer größeren Problemen in unserer Stadt sind starke, kritische und kreative Köpfe gefragt, die flexibel und mit neuen Ideen auf diese reagieren. Dadurch konnten die Mainzer Betriebe ihre Gewinne verdoppeln. Mittlerweile tauchen immer mehr Frankfurter Headhunter hier auf. Die Mainzer Absolventen sind gefragt. Sie können mitdenken, suchen sich Aufgaben, lernen durch Beobachtung und arbeiten selbstständig, alles ein Resultat des neuen Bildungssystems: Gute Bildung braucht Zeit!
Ein Sack Heu pro Taxifahrt
Und Zeit werde auch ich brauchen. Denn es ist gar nicht mehr so einfach, in der Stadt einen preisgünstigen Parkplatz zu bekommen Deshalb lasse ich mir von Robi eine günstige Verbindung heraussuchen: „Gebieter, der Wind hat die Richtung gewechselt, die Strahlung hat nachgelassen. Sie können um 13.15 mit dem Trolleybus, um 13.55 mit der Straßenbahn oder um 14.15 mit der Kutsche in die Innenstadt fahren. Die preisgünstigste und gesündeste Lösung, die ich vorschlage, ist jedoch das eigene Fahrrad.“ Da ich nicht weiß, wo sich mein Fahrrad befindet und Robi wegen des Stromausfalls anscheinend einen Kurzschluss hat, werde ich gemütlich mit einem E-Taxi bis in die Ludwigstraße fahren. Ich liebe diese kleinen Autochen. Diese lautlose Beschleunigung, die gemütliche Ausstattung, die kleinwüchsigen Fahrer. Herrlich auch die seitlichen Schiebetüren. Da kann ich mit meinen 120 kg locker einsteigen und bekomme nicht gleich Rückenschmerzen. Mainz ist in zwanzig Jahren ein Leitmarkt der Elektromobilität geworden. Bravo. Nur die Pferdekutsche ist billiger und gemütlicher. Für einen Sack Heu komme ich in die Altstadt und zurück! Vor allem kann man seine Zeitung in Ruhe lesen. Vorausgesetzt, man hat den Strom bezahlt. Das Lachen vergeht mir, als ich am Gazprom- Schalter die Rechnung vorgelegt bekomme – ein kleines Vermögen: „Das ist Wucher, gnädige Frau! Wieso muss ich so viel bezahlen?“ brülle ich die Dame an. „Was weiß ich denn, was sie mit dem vielen Strom machen“, brüllt sie zurück. „Strom ist halt teuer in diesen Zeiten. Sie verbrauchen ja mehr als ein Kaufhaus“, sie ist nicht mehr zu halten. „Da wird ja ihr Stromzähler schwindlig, so schnell dreht der sich.“ Mir dreht es sich auch vor den Augen und ich fühle, wie mir Schwarz wird. „Wolfi, wach auf!“ Meine allerbeste Ehefrau schüttelt an mir. „Du hattest einen Albtraum. Komm wach auf, trink einen Tee und beruhige dich.“ „Haben wir Strom?“ „Natürlich. Was ist das jetzt wieder für ein Hirngespinst?“ „Darf ich dich noch etwas fragen? Welches Jahr haben wir denn?“ Sie schaut mich ungläubig an, schüttelt den Kopf, murmelt etwas und verlässt das Zimmer. Heute Morgen fühle ich mich gar nicht gut. Ich liege auf dem Rücken in meinem Bettchen und kann nicht aufstehen. Irgendwie fühlt sich mein Rücken so anders an. So hart. Wie mit Beton gefüllt! Ich versuche, witzig zu sein und murmele etwas von einer großen, dicken Schildkröte, die auf dem Rücken liegend nicht mehr aufstehen kann. Leider habe ich keinen Panzer und kann die Schmerzen nicht abwehren. Das Erste, was meine halb geöffneten Augen sehen, ist ein faltiges, schrumpeliges, leidend blickendes Gesicht. Was für ein Schock, mich so im Spiegel zu sehen. Ehrlich! Meine wenigen Haare stehen nach allen Seiten – ähnlich eines geplatzten Igels – und ein uraltes, von Sorgen zerfurchtes und von Gram zerfressenes Gesicht blickt mich an. Irgendwie passt dieses Gesicht nicht zu mir.