Papst Franziskus gibt uns Mut, uns wieder mit einem Thema zu beschäftigen, das in den letzten 50 Jahren hoch oben auf der Liste der pastoralen
Dringlichkeiten der Kirche stand: der Umgang mit Gläubigen in schwierigen Ehesituationen. Im Grunde ist es sogar ein uraltes Problem.
Indem der Papst eine zweitägige Versammlung der Kardinäle sowie zwei
Bischofssynoden 2014 und 2015 zum Thema „Familienpastoral“ einberufen
hat und das Thema Ehe und Familie auch seit seiner Wahl vor einem
Jahr immer wieder angesprochen hat, setzt er sich selbst an die Spitze
bei der Suche nach verträglichen Lösungen. So ist auch die bekannte
Umfrage Ende 2013 zur Familienpastoral entstanden. Die Auswertung
auch in unserem Bistum zeigt, wie brennend die Frage nach dem Ort
insbesondere wiederverheirateter Geschiedener in der Kirche ist.
Wenn früher dieses Thema eine verhältnismäßig kleine Gruppe in der
Kirche betraf, so ist es heute überall anzutreffen. Jeder hat in seiner
Familie oder Umgebung Beispiele dafür. Als Seelsorger leidet man am
unheilvollen Zerbrechen vieler Ehen, aber auch an der derzeitigen Hilflosigkeit
im kirchlichen Umgang damit. Viel Verdruss, Kritik und sogar
Austritte aus der Kirche sind damit eng verbunden. Darum gibt es auf
allen Ebenen des kirchlichen Lebens, besonders im Blick auf den Empfang
der heiligen Kommunion, heftige Diskussionen und leider große
Unterschiede im Verhalten der einzelnen Gemeinden.
Auch aus diesem Grunde möchte ich, abgesehen von bisherigen Äußerungen,
in diesem Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit 2014 dieses dornenreiche
Problem in den Grenzen eines solchen Schreibens an die Gemeinden aufgreifen. Meine Ausführungen bieten selbst noch keine praktische
Lösung, machen aber auf einige Voraussetzungen dafür aufmerksam.
I. Der unüberhörbare Ruf nach Erbarmen und Vergebung
Was einem bei den Antworten der genannten Umfrage auffällt, ist der
durchgehende Ruf nach der Erfahrung von Barmherzigkeit im kirchlichen
Handeln gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen. Es ist
geradezu ein Schrei, der in vielen Antworten widerhallt. Klage, Enttäuschung
und Zorn schwingen vielfach mit. Oft ist man der Überzeugung,
dass die Kirche hier das Evangelium Jesu Christi verleugne und
gegen den Geist der Bibel handele. Dies gilt besonders auch für unsere
gegenwärtige Situation. So liest man z.B. in einer der Antworten auf die
Umfrage: „Jesus hat immer wieder gesagt: ‚Über allem steht die Liebe.
Das Hauptgebot ist die Liebe.‘ Und von diesem Gedanken, dieser Richtschnur,
kann ich in der Vergangenheit nur wenig und momentan so gut
wie nichts mehr bei dem Lehramt entdecken.“ Oder auch: „Die Menschen
fühlen sich bei diesen Fragen nicht angenommen. Kirche und
Realität klaffen auseinander. Die Menschen verstehen Kirche zum Teil
nicht mehr, da sie mit dem, was Jesus verkündet hat, zum Teil nichts
mehr zu tun hat.“ Vor diesem Hintergrund findet Papst Franziskus viel
Zustimmung, wenn er immer wieder die Barmherzigkeit als Grundmaß
der Frohbotschaft Jesu herausstellt.
Ich kann die erwähnte Kritik vielfach gut verstehen. Gewiss gab es in der
Vergangenheit, nicht zuletzt in der Beichtpraxis, manche Härte, die den
Eindruck von Gnadenlosigkeit hinterlassen hat. Auch wenn dies heute
nicht mehr vorherrschend ist, erfahren sich viele in ihrer Situation noch
immer als alleingelassen und ausgegrenzt, wie ich nicht zuletzt aus vielen
Briefen weiß, die mich über die Jahre immer wieder erreicht haben.
Vor allem deshalb habe ich mich seit nunmehr 45 Jahren wiederholt und
intensiv mit diesen Problemen beschäftigt, ja gerungen und nach gangbaren
Lösungen gesucht. Ich fühle mich selbst durch Papst Franziskus
ermutigt, hierin auch in Zukunft nicht nachzulassen, soweit mir dies
möglich ist.
II. Treue der Kirche zu Jesu Wort
Ist die Kirche ihrem Herrn Jesus Christus in ihrer Lehre und Praxis zur
Ehe wirklich untreu geworden? Gewiss gehört die Barmherzigkeit in die
Mitte des Evangeliums und muss ein Schlüsselwort für die Verkündigung
der Kirche sein. Aber Barmherzigkeit als Grundforderung schließt
auch bei Jesus selbst nicht die Geltung von Geboten als Richtschnur des
Handelns aus. So ist die Kirche nicht nur auf Jesu Verkündigung von
Gottes Barmherzigkeit verpflichtet, sondern nicht weniger auf seine Ermahnungen
zur Treue in der Ehe.
Zunächst einmal wird im Neuen Testament die Ehe als eine von Gott
selbst angelegte, untrennbare Einheit verstanden (vgl. Mk 10,2–9). Es
ist dann sehr auffällig, dass Jesu Verbot der Scheidung das innerhalb der
Schrift am meisten angeführte Wort von ihm ist, nämlich fünf Mal. Wir
wissen nicht mehr, in welchem Zusammenhang Jesus dieses Wort ursprünglich
gesprochen hat, da es bereits der jeweiligen Praxis in den verschiedenen
Gemeinden angepasst ist. Dabei spielt auch der Kulturkreis,
z.B. hebräisch-judenchristlich und griechisch-römisch, eine Rolle. Aber
dies darf nicht so verstanden werden, dass der grundsätzliche Befund
relativiert wird: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch
nicht trennen.“ (Mk 10,9) Ehescheidung wird also grundsätzlich untersagt.
Außerdem setzen alle Aussagen voraus, dass eine Ehe lebenslang
gilt. Dies wird auch von der Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel
her gestützt (vgl. Gen 1,27 und 2,24). So heißt es bei den Evangelisten
Matthäus und Markus: „Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie
als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter
verlassen und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr
zwei, sondern eins.“ (Mk 10,6f; Mt 19,4f ) „Ein Fleisch“ bedeutet eine
konkrete, ganzheitliche, also auch leibliche Lebensgemeinschaft.
Auch wenn hier und an anderen Stellen der Bogen zum Alten Testament
geschlagen wird, darf man den Unterschied, den Jesus bewusst hervorhebt,
nicht übergehen: Wenn das Alte Testament unter gewissen Voraussetzungen
eine Scheidung erlaubt (vgl. Dtn 24,1–4) – es gibt aber auch
Warnungen davor (vgl. Mal 2,16; Dtn 22,13ff; Sir 7,26) –, dann weist Jesus darauf hin, dass dies nicht „von Anfang an“ so war und Mose eine
solche Scheidung nur wegen der „Hartherzigkeit“ der Menschen zuließ
(vgl. Mk 10,5 und Mt 19,8). Jesus hat durch sein Wort den ursprünglichen
Willen Gottes, der durch die Folgen der Ursünde entstellt war,
im Licht der anbrechenden Herrschaft Gottes wieder uneingeschränkt
zur Geltung gebracht (vgl. Mt 5,27–32). So hat Jesus die rückhaltlose
Gemeinschaft und vollendete Einheit der Ehe verstanden. Dies ist im
Verhältnis zu dem, was in der Regel vorherrscht, eine Provokation.
Das Wort Jesu von der untrennbaren Bindung einer Ehe ist eine zentrale
Säule seiner Verkündigung, die von der Kirche nicht preisgegeben
werden kann, wenn sie ihrem Herrn treu bleiben will. Deswegen ist es
auch so schwierig, diesen eindeutigen Auftrag Jesu in eine Balance zu
bringen mit der Forderung nach Barmherzigkeit. Dies sieht man bereits
im Neuen Testament selbst. Denn wir haben im Matthäus-Evangelium
(5,32; 19,9) eine Aussage, dass das „unzüchtige Verhalten einer
Frau“ – so kann man das mehrdeutige griechische Wort „porneia“
einmal zu übersetzen versuchen – eine Ausnahme für das Verbot der
Scheidung darstellt, allerdings nur für den Mann gegenüber der Frau
(dazu freilich im griechischen Kontext Mk 10,12 und 1 Kor 7,12ff ).
Sie sehen schon an diesen wenigen Hinweisen, meine lieben Schwestern
und Brüder, dass das Wort Jesu grundsätzlich sehr eindeutig ist, die
konkrete Verwirklichung jedoch schon in den damaligen Gemeinden
gewisse Anpassungen forderte (vgl. auch die andersgelagerte Situation
in 1 Kor 7,12–16). Was dies wiederum im Blick auf die gegenwärtigen
Schwierigkeiten mit zerbrochenen Ehen in unserer modernen Zeit
bedeutet, ist eben Gegenstand lang anhaltender theologischer und
seelsorglicher Erwägungen in der Kirche, die aber immer rückbezogen
bleiben müssen auf die zentrale Aussage Jesu über die Ehe. Auch in
anderen Epochen der Kirche hat man mit dieser Spannung immer wieder
gerungen. Dabei ist bei aller Bindung an Jesu Wort die konkrete
Auslegung in die verschiedenartigen Situationen und jeweiligen Probleme
von Ehe und Familie hinein doch nicht völlig unbeweglich und
starr gewesen. Auch dies spielt in der heutigen Diskussion eine Rolle.
Wir können gleichwohl frühere Einzelregelungen, deren Deutung unter
den Experten oft strittig ist, nicht einfach in unserer heutigen Zeit
kopieren. Gegenüber zahlenmäßig begrenzten Einzelfällen handelt es
sich heute geradezu um ein Massenphänomen.
III. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Widerstreit
Vielleicht ist jetzt auch deutlich geworden, dass mit dem gut gemeinten
Schlagwort „Barmherzigkeit“ allein das Grundproblem nicht einfach
pauschal aufgelöst werden kann. Dafür sind auch die Situationen wiederverheirateter
Geschiedener viel zu unterschiedlich: Es ist doch ein
großer Unterschied, ob jemand seinen Ehepartner und seine Familie wegen
einer neuen Beziehung leichtfertig im Stich lässt und endgültig verlässt
oder ob jemand selbst schnöde verlassen worden ist. Das Stichwort
„Barmherzigkeit“ allein darf nicht vergangenes und bleibendes Unrecht
einfach zudecken. Jesu Verweis auf die „Herzenshärte“ trifft auch heute
noch manche brutale Wirklichkeit. Die Kirche darf ihre Augen davor
nicht verschließen.
Für mich ist es erstaunlich, dass in der ausgedehnten heutigen Diskussion
die letztlich unauflösliche Spannung zwischen Liebe und Barmherzigkeit
auf der einen Seite und Gerechtigkeit auf der anderen Seite
nur ganz selten behandelt wird. Dabei ist man sich in der Kirche dessen
immer bewusst gewesen. So hat z.B. Papst Johannes Paul II. in seiner
Enzyklika über das Erbarmen (Dives in misericordia) 1980 gesagt: „An
keiner Stelle der Frohen Botschaft bedeutet das Verzeihen, noch seine
Quelle, das Erbarmen, ein Kapitulieren vor dem Bösen, dem Ärgernis,
vor der erlittenen Schädigung oder Beleidigung. In jedem Fall sind Wiedergutmachen
des Bösen und des Ärgernisses, Behebung des Schadens,
Genugtuung für die Beleidigung Bedingungen der Vergebung.“ Erbarmende
Liebe ist niemals ein heimlicher Freibrief für irgendwelche Formen
der Ungerechtigkeit.
IV. „Unterscheidung der Geister“ als christliche Tugend
und pastorale Kunst
Ich habe deshalb seit längerem den Eindruck, dass man bei der künftigen
Behandlung des Problems wiederheirateter Geschiedener keine pauschale
Lösung finden wird, die einfach auf alle unterschiedslos angewendet
werden kann. So heißt es in dem grundlegenden Schreiben zur Familienpastoral
(Familiaris consortio) von Johannes Paul II. aus dem Jahr
1981: „Die Hirten mögen beherzigen, dass sie um der Liebe willen zur
Wahrheit verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden.“
So wird sich der Blick einerseits noch stärker auf die einzelne
Person richten müssen, anderseits darf diese indviduelle Rücksicht auch
wieder nicht zu ungeregelter Willkür und Ungleichheit führen. Darum
sind bei aller Würdigung der konkreten Situation und des Einzelnen so
etwas wie „Pastorale Richtlinien“ notwendig. Diese können dann eine
Richtschnur werden für die Entscheidung der einzelnen Betroffenen,
deren Gewissen hier ins Spiel kommen muss, im Gespräch mit ihren
Seelsorgern, insbesondere im Blick auf die schwierige Frage einer Zulassung
zum Empfang der hl. Eucharistie. Dabei muss auch erwogen werden,
ob auf dem Weg des kirchlichen Ehegerichts Hilfen möglich sind.
Ich hoffe sehr, dass die angekündigten Bischofssynoden dazu die nötigen
Voraussetzungen schaffen können.
V. Dank und Verheißung
In dieser gewiss schwierigen Lage danke ich zunächst allen Seelsorgern
bzw. auch Beraterinnen und Beratern vor Ort, denn sie müssen – abgesehen
von der Vielfalt der einzelnen Personen und Situationen – mit den
eben beschriebenen Spannungen täglich umgehen. Die Unterschiede in
der gegenwärtigen Praxis zwischen den einzelnen Gemeinden machen
nicht nur ihnen große Probleme, sondern belasten auch die Verantwortung
eines Bischofs. Deshalb bitte ich auch die Betroffenen in schwierigen
Ehesituationen um Verständnis und Geduld. Sie sind ja keineswegs,
wie man mitunter meint, einfach aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen;
sie gehören zu uns und haben Anspruch auf den Beistand und die Hilfe der Kirche sowie ihrer Mitchristen. Sie sollen aber auch
aktiv am Leben der Kirche teilnehmen.
Ich möchte außerdem diejenigen nicht vergessen, die ihrem Ja-Wort in
Ehe und Familie treu bleiben, manchmal unter großen Opfern. Bei der
langen Lebenszeit, die heute zum Glück sehr vielen geschenkt ist, kann
man dies nicht hoch genug schätzen. Diese eheliche Treue war für die
Kirche schon sehr früh ein anschauliches Bild der Treue Gottes zu seinem
Volk bzw. Jesu Christi zu seiner Kirche (vgl. Eph 5,32). Zugleich
schenkt die Hingabe Jesu Christi für die Menschen und besonders die
Kirche auch der sakramentalen Ehe von Mann und Frau eine große
Kraft der Liebe. Das Kreuz Jesu Christi fordert Verzicht und bewahrt
auch nicht vor dem Leiden, aber es macht in allen Situationen stark und
enttäuscht am Ende nie.
Wie viele Umfragen immer wieder zeigen, ist eine solche lebenslange
Treue und Geborgenheit nach wie vor eine tiefe Sehnsucht der meisten
Menschen, besonders auch junger Menschen. Jede Generation wird für
sich entdecken und lernen müssen, wie sie diese Sehnsucht unter den
Bedingungen der jeweiligen Zeit verwirklichen kann. Beten wir für- und
miteinander, dass Gott in seiner Treue uns alle auf diesem Weg durch die
Zeiten weiter begleite.
Karl Kardinal Lehmann