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Fachkräftemangel: Früher war alles besser (?)

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von Susanne Hoffmann, Fotos: Anna Thut

Laut Schätzungen fehlen der deutschen Wirtschaft bis 2030 rund fünf Millionen Arbeitskräfte – und zwar in nahezu allen Branchen, bei Akademikern, Facharbeitern und Ungelernten. Das deutsche Handwerk beklagt bereits jetzt 15.000 fehlende Auszubildende und 25.000 Arbeitskräfte. Für manch einen ist diese demografische Entwicklung der Horror – für andere, vor allem die Generation ab 1980, ist sie auch eine Chance: nämlich Druck von unten zu machen.
Im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern halten sie einen Trumpf in der Hand: Es ist die Macht der Knappheit in einem Land, dem allmählich die Fachkräfte ausgehen. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um rund sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen schrumpfen, hat das Statistische Bundesamt berechnet. Der Anteil der unter 20-Jährigen wird zurückgehen, der Anteil der Personen, die 60 Jahre oder älter sind, wird anwachsen. In einigen Branchen ist der Mangel heute schon sichtbar, der deutschen Wirtschaft fehlen Ingenieure, Computerspezialisten, Physiker. Doch nicht nur Arbeitnehmer mit Uni-Abschluss sind knapp. Dringend gebraucht werden auch Menschen mit bestimmten Berufsausbildungen: Lokführer, Altenpfleger, Köche. Was aber erwarten junge Beschäftigte von der Arbeitswelt und was Personalchefs? Und wie können Lösungen gefunden werden?

Lauschen als Beruf
Nach einigen Irrungen und Wirrungen scheint Roberto Vizoso angekommen. Der 27-Jährige absolviert eine Ausbildung zum Hörgeräteakustiker. Dass er sich für diesen Beruf entschied, dafür gibt es verschiedene Gründe. Nach dem Abitur begann er zunächst, Bauingenieurwesen zu studieren. Doch nach wenigen Semestern merkte er, dass ihm das Studium zu praxisfern war, ihm zu wenig Struktur und wohlgemerkt: zu viele Freiräume bot. Er brach ab und begann eine Ausbildung als Versicherungskaufmann. Doch auch hier klafften Erwartungen und Realität auseinander. „Mir wurden andere Inhalte und Aufgaben versprochen, unter anderem auch, dass ich rauskomme und mit Kunden Kontakt habe. Doch ich saß nur im Büro.“ Jetzt, so Vizoso, gehe er gerne zur Arbeit. Zur Hörgeräteakustik und seinem Chef, Georg Collofong von Hörgeräte Collofong in Mainz, Flachsmarkt 5, kam er dank glücklicher Umstände: Sein Bruder und der Inhaber des Hörgeräteakustikgeschäfts sind befreundet. Als Georg Collofong erfuhr, dass Roberto einen Job sucht, sprach er ihn an und offerierte ihm eine Lehrstelle. Roberto zögerte nicht lange und nahm das Angebot an. Ein Glücksgriff, wie sich nach wenigen Wochen erwies: „Er geht super mit den Kunden um, was in unserem Metier sehr wichtig ist“, so Collofong.

Qualität der Bewerber entscheidend
Dass Roberto älter ist, stört ihn nicht. Im Gegenteil: „Ich stelle bevorzugt etwas ältere Azubis ein. Die sind reifer, weiter in ihrer Entwicklung und können besser mit unseren tendenziell eher älteren Kunden umgehen.“ Allerdings weiß er auch, dass er in Zeiten, in denen Lehrlinge knapp werden und sich die große Mehrheit der jungen Leute für ein Studium entscheidet, eigentlich nicht allzu wählerisch sein darf. „Ich bin es trotzdem. Wenn keine geeigneten Bewerber dabei sind, dann bilde ich lieber ein Jahr gar nicht aus, als mich auf einen faulen Kompromiss einzulassen“, sagt der 41-Jährige. Leider sei es so, dass nicht nur die Zahl der Bewerbungen auf einen Ausbildungsplatz dürftig ist, sondern auch die Qualität. „Der Großteil geht gar nicht“, so Collofongs niederschmetterndes Urteil. „Viele können noch nicht mal drei gerade Sätze reden, sind im Rechnen schwach, machen viele Fehler in der Rechtschreibung und haben ein katastrophales Allgemeinwissen.“ Bevorzugt stellt Collofong daher Abiturienten ein, aber auch junge Menschen mit Mittlerer Reife sind willkommen. Um auf freie Stellen aufmerksam zu machen, muss er aktiv werden. „Früher genügte ein Anruf beim Arbeitsamt. Heute muss man selber trommeln.“ Collofong schaltet Anzeigen, wirbt auf seiner Website und in Online-Stellenbörsen, und er macht Werbung im Geschäft. Weil es so problematisch ist, gutes Personal zu finden, weiß er auch, wie wichtig es ist, die Guten zu binden. „Bei uns arbeiten die Menschen gern. Das liegt an der Arbeitsatmosphäre, der anständigen Bezahlung und daran, dass sie auch als Azubis schon viel machen dürfen – von der Beratung, über das Anfertigen und Reparieren der Hörgeräte bis hin zum Verkauf und Marketing.“ Das überzeugendste Argument jedoch seien die beruflichen Perspektiven: Wer nach der Ausbildung als Geselle seinen Meister macht, verdient sehr ordentlich und kann speziell bei ihm eine steile Karriere hinlegen. Denn Georg Collofong ist nicht nur Inhaber des Mainzer Geschäfts, sondern auch Gründer von drei weiteren Filialen in Saulheim, Oppenheim und Neustadt an der Weinstraße. „Wer sich gut entwickelt und ehrgeizig ist, kann Teilhaber werden.“

Mehr Kooperation mit Schulen?
Demografischer Wandel und Akademisierung – das sind Herausforderungen, mit denen sich Unternehmen, Politik, Wirtschaftsverbände und Kammern immer stärker konfrontiert sehen. Das Handwerk, so Dr. Stefan Zimmer, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Rheinhessen, sei vom Fachkräftemangel noch stärker betroffen als Industrie und Dienstleistung: „Viele junge Leute hegen ein veraltetes und eher negatives Bild von Handwerksberufen. Sie denken, es ist immer laut, stinkt und ist körperlich anstrengend.“ Doch viele Berufe haben sich gewandelt und werden sich aufgrund von Automation, Technisierung und Digitalisierung weiter verändern und zukunftsfähig sein. „Man denke nur an das Berufsbild des Installateurs. Heute heißt er Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungund Klimatechnik und berät Kunden hinsichtlich Energieeffizienz, Fördermöglichkeiten und Fernwartung.“ Diese Berufsfelder müssen stärker als bisher in die Schulen getragen werden, fordert Zimmer. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Gymnasien könnte intensiviert werden, um den Schülern Alternativen zum Studium aufzuzeigen. Dabei betont der Chef der Handwerkskammer, dass er die Studierwilligen nicht abwerben, sondern ihnen Berufswahloptionen bieten will. „Daher ist die Berufsorientierung in der 8. oder 9. Klasse in allen Schulen, auch Gymnasien, so wichtig.“ Wegweisend könnte ein Pilotprojekt sein, das Zimmer im Jahr 2015 gemeinsam mit dem rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerium auf den Weg bringen will. „Dann werden wir Achtklässler für eine Woche aus den Gymnasien in Berufsbildungszentren holen, wo sie handwerkliche Tätigkeiten kennen lernen und sich darin erproben können.“ Auch Zimmers Amtskollege von der IHK Rheinhessen, Richard Patzke, weiß, dass es sich die Gesellschaft aufgrund des demografischen Wandels nicht leisten kann, auch nur irgendeinen Jugendlichen zurückzulassen: „Qualifizierte Ausbildung und die optimale Berufswahlvorbereitung von Schülern sind ein Schwerpunkt der Arbeit auf dem regionalen Ausbildungsmarkt.“ Die IHK hält deshalb Kontakt zu Schulen und Betrieben, forciert Praktika, Berufsbildungsmessen und Infotage. So erfahren die jungen Leute frühzeitig, welche Berufe es gibt und was deren Inhalte sind. Die Jugendlichen sollen konkrete Vorstellungen vom Alltag in den Berufen entwickeln und so eine passende Wahl treffen können.

Wandel der Arbeitswelt
Aber auch Unternehmen und Betriebe müssen umdenken. Sie müssen sich den Veränderungen – vom arbeitgeber- zum arbeitnehmerorientierten Markt anpassen, wenn sie den Kampf um die besten Köpfe nicht verlieren wollen. Starre Arbeitszeiten und Anwesenheitspflichten sind in vielen Bereichen nicht mehr zeitgemäß und teils überflüssig. Denn längst ist klar, dass erfolgreiche Leistung nicht davon abhängt, wie viele Stunden man auf der Arbeit verbringt. Eine an Ort und Zeit gebundene Arbeit ist ein Überbleibsel aus der Industriegesellschaft, als es noch eine klare Trennung zwischen Beruf und Freizeit gab. In der heutigen Berufswelt können viele Arbeiten von einem beliebigen Ort erledigt werden. Es gibt Unternehmen, die das bereits erkannt haben und diese Möglichkeit der Flexibilisierung an ihre Belegschaft weitergeben. BMW beispielsweise will Mitarbeitern Arbeitsstunden außerhalb des Büros künftig gutschreiben und sie dafür an anderen Tagen früher nach Hause schicken.

Alternativen zum Studium
Im Industriegebiet Hechtsheim hat vor knapp zwei Jahren Möbel Martin eröffnet. Das Einrichtungshaus beschäftigt 450 Mitarbeiter. Geht es nach Geschäftsleiter Peter Metzger, so dürften es ab August gerne zehn mehr sein. So viele auszubildende Kaufleute für den Einzelhandel wünscht er sich. Doch die Aussichten dafür sind nicht gerade rosig. Obwohl man seit vergangenem Oktober auf einschlägigen Internetplattformen, der eigenen Website, in Prospekten und im Markt dafür wirbt, sei die Ausbeute bisher eher mau. Nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ. Man erhalte mitunter Bewerbungen, bei denen Zeugnisse fehlen, Flecken auf Dokumenten und Rechtschreibfehler in Anschreiben oder Lebenslauf seien. „Natürlich achten wir auf die Form, die Noten und die Fehlzeiten. Besonders wichtig ist uns aber, dass die jungen Leute in ihrer Bewerbung erklären, warum sie bei uns arbeiten wollen.“ Metzger, selbst gelernter Einzelhandelskaufmann, leitet seit 16 Jahren Möbelmärkte und beobachtet mit Sorge die abnehmende Anzahl und Qualität der Bewerbungen. Als Gründe dafür sieht er zum einen den Studierwillen vieler Schulabgänger und die Vorliebe für andere Branchen: „Wenn sie sich nach der Mittleren Reife, dem Abitur oder auch nach der 9. Klasse für eine Ausbildung im Einzelhandel entscheiden, dann gehen die Jungs eher in Elektrofachmärkte, die Mädchen in Kleidergeschäfte.“ Von den Schulen und der Politik wünscht sich der Marktchef mehr Unterstützung, wenn es darum geht, die duale Ausbildung vorzustellen und zu bewerben. „Noch ist es so, dass die Schulen in erster Linie ihre vorgegebenen Lehrinhalte durchziehen müssen. Daher bleibt wenig Zeit – insbesondere in Gymnasien – um junge Leute auf das Berufsleben vorzubereiten, beziehungsweise ihnen Alternativen zum Studium aufzuzeigen, beispielsweise durch Praktika in Betrieben.“ In den Real- und Gesamtschulen laufe es in dieser Hinsicht besser, weil Praktika obligatorisch sind.

Azubi bei Möbel Martin
Jasmin Reinhardt ist 16 Jahre alt und lernte Möbel Martin über eine Werbung kennen. Sie absolviert hier im ersten Lehrjahr ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Als Realschülerin mache sie Praktika im Büro und bei einem Fotografen, merkte dabei aber, dass beides nicht ihr Ding ist. Sie wollte lieber verkaufen und mit Menschen zu tun haben. Seit August durchläuft sie verschiedene Abteilungen, packt Ware aus, baut sie zusammen, berät Kunden, ist bei Verkaufsgesprächen ihres so genannten Paten – einem erfahrenen Einrichtungsberater – dabei und bearbeitet Reklamationen. Insgesamt wird Jasmin bis zum Ende ihrer Lehrzeit nach drei Jahren elf Abteilungen kennen lernen und kann sich dann entscheiden, in welcher sie ihre Abschlussprüfung machen will. Überhaupt ist für sie die Abwechslung das Argument schlechthin. Anil Yavuz ist ebenfalls Azubi, 22 Jahre alt und schon mit etwas mehr Berufserfahrung ausgestattet. „Hier ist Leben. Man hat den ganzen Tag mit Menschen zu tun. Das macht mir Spaß“, beschreibt Anil die Vorzüge seiner Lehre im Möbelmarkt. Der junge Mann kann es kaum erwarten, selbst zu verkaufen. Wünsche für die Zukunft hat er auch: „Erstmal die Lehre erfolgreich abschließen und dann würde ich sehr gerne als Einrichtungsberater in der Küchenabteilung arbeiten.“

Ausgewogene Work-Life-Balance
Ausbildungsberufe wieder attraktiver machen – das heißt auch, jungen Leuten ihre Aufstiegsmöglichkeiten zeigen: etwa mit dem Abschluss als Meister, der per se schon oftmals einen Karriereund Gehaltssprung bedeutet und darüber hinaus zum Studium berechtigt. Last but not least sind in Zeiten zunehmender Personalengpässe auch die Betriebe gefordert, für sich zu werben, beispielsweise, in dem sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Beruf und Pflege fördern. Hier setzt auch das Modellprojekt „Lebensphasenorientierte Personalpolitik 3.0“ an, das kürzlich die rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerin Eveline Lemke vorstellte. Es soll Unternehmen helfen, das Berufs-, Familien- und Privatleben ihrer Mitarbeiter stärker zu berücksichtigen, damit sie ihre Arbeitgeber-Attraktivität steigern, Fachkräfte gewinnen und binden. Denn die kennen ihren Wert und werden zunehmend anspruchsvoller. Soziologen beobachten sogar, dass Tugenden wie Fleiß und Ehrgeiz seit Mitte der neunziger Jahre bei der jüngeren Generation enorm an Bedeutung gewinnen. In der jüngsten Shell-Studie etwa, die Deutschlands Jugend alle paar Jahre neu vermisst, war die Leistungsbereitschaft unter den 12- bis 25-Jährigen die höchste, die je gemessen worden ist. Trotz des demografischen Wandels sind das doch Erkenntnisse, die auch mit Zuversicht aufgenommen werden können.

1 response to “Fachkräftemangel: Früher war alles besser (?)

  1. Fachkräftmangel ist eine Erfindung der Industrie, es gibt ihn nämlich gar nicht.

    Die Industrie will nur die Angebote von Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, um so Gehälter reduzieren zu können.

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