Direkt zum Inhalt wechseln
|

exground filmfest in Wiesbaden: 15. bis 24. November

Vom 15. bis 24. November bietet das exground filmfest wieder reichlich Gelegenheit, mit Filmschaffenden ins Gespräch zu kommen sowie den Horizont zu erweitern. Dafür sorgt auch der exground-Fokus. In diesem Jahr ist er auf die Themen Flucht und Vertreibung gerichtet.

Das exground filmfest ist auch ein Forum für gesellschaftspolitischen Austausch. Im Vergleich zu früheren Ausgaben mit lokalem Länderschwerpunkt nimmt die 37. Ausgabe eine globale Perspektive ein und befasst sich mit einem Thema, das die Welt und den Kontinent mehr denn je beschäftigt.

Der Themenschwerpunkt „Flucht und Vertreibung“ zeigt engagierte fiktionale und dokumentarische Arbeiten des Weltkinos, die sich jenseits einfacher Antworten mit den komplexen Ursachen und Folgen von Flucht auseinandersetzen: mit Klimawandel, Kriegen, Hunger, Menschenrechtsverletzungen, fehlender Rechtsstaatlichkeit, Verfolgung, neokolonialer Ausbeutung und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Neben dem tatsächlichen Fluchtgeschehen und Abschottungstendenzen beleuchtet der Themenschwerpunkt die vielfältigen Fluchtursachen und mögliche Auswege.

Die Schwerpunktsektion umfasst eigenwilliges, emotional bewegendes und gesellschaftlich relevantes Kino, ergänzt um ein vielseitiges Rahmenprogramm.

Highlights

Eröffnet wird exground filmfest 37 mit dem ersten Film aus dem Fokusprogramm: THE STORY OF SOULEYMANE (FR 2024) von Boris Lojkine, ein eindringlich gespieltes Drama um den als Fahrradkurier in Paris ausgebeuteten Geflüchteten Souleymane.

In der Dokumentation BACKGROUND (DE 2023) erinnert sich der aus Syrien geflohene Leipziger Filmemacher Khaled Abdulwahed zusammen mit seinem in Aleppo ausharrenden Vater an dessen Ingenieursstudium in Sachsen Mitte der 1950er. In Telefonaten scherzen sie über kulturelle Eigenheiten und kommentieren Khaleds detektivische Suche in den deutschen Archiven. Fotos des Vaters werden bearbeitet, und der Körper wird in die Orte von heute übertragen. Dabei entsteht ein vielschichtiges Panorama über die Verwobenheit beider Länder und die Rolle von Bildern im Prozess des Erinnerns. Der Film wurde mit dem Großen Preis beim FID Marseille 2023 ausgezeichnet.

MY FATHER’S PRISON (VE/ CZ 2023) von Ivan Andres Simonovis Pertiñez führt nach Venezuela, das seit einigen Jahren Schauplatz einer der größten Fluchtbewegungen weltweit ist. Millionen Menschen treibt das korrupte Maduro-Regime ins Ausland. In MY FATHER’S PRISON erzählt ein im Berliner Exil lebender Filmemacher mithilfe von Videoaufnahmen die Geschichte seines Vaters, der als Polizeichef von Caracas zu 30 Jahren im gefürchteten Gefängnis „El Helicoide“ verurteilt wird. Als die Haftstrafe nach langer Zeit und infolge internationalen Drucks in Hausarrest umgewandelt wird, plant die Familie eine aufsehenerregende Flucht. 

Cyrielle Raingous (FR/CA 2023) THE SPECTER OF BOKO HARAM spielt in einer Grenzregion zwischen Kamerun und Nigeria, die von der islamistischen „Boko Haram“ terrorisiert wird und dennoch Zufluchtsort vieler Menschen ist. Militär patrouilliert in den Straßen. Das Mädchen Falta bittet die Mutter, ihr vom Tod des Vaters zu erzählen. Den Brüdern Ibrahim und Mohamad fällt es schwer, sich nach den Erlebnissen als Kindersoldaten auf die Schulroutine einzulassen. Cyrielle Raingou schafft in ihrem Debüt eine behutsam-respektvolle Momentaufnahme dieser traumatisierten Kinder, aus denen trotz alledem so viel Lebensfreude strahlt.

Oksana Karpovychs INTERCEPTED (CA/FR/UA 2024) nimmt das Publikum mit in den Krieg. Ein schaukelndes Kind voll Leichtigkeit, dann ausgebrannte Panzer am Straßenrand. Plötzlich Stimmen auf Russisch. „Hi Mama, kannst du dir einen Moment nehmen, um zu reden?“ Der Beginn einer Reihe von Telefonaten zwischen russischen Soldaten und ihren Familien. Kombiniert mit den oft tableauhaften Aufnahmen zerstörter ukrainischer Orte, schaffen sie eine gespenstische Reibungsfläche. Banale Gespräche wechseln sich ab mit Geständnissen über exzessive Gewalt und der Propaganda der Zuhausegebliebenen. Ein bemerkenswerter Versuch über Ursache und Wirkung ist der Regisseurin gelungen.

SONG OF ALL ENDS (FR 2024)von Giovanni C. Lorusso zeigt poetische Alltagsbilder aus dem Schatila-Camp in Beirut. 1949 wurde es für vertriebene Palästinenser errichtet und erlangte durch das Massaker von 1982 grausame Berühmtheit. Seit der verheerenden Hafenexplosion im Jahre 2020 trauert die Familie Alhaddad um das verstorbene Mädchen Houda. Den meist schwarz-weißen Bildern wohnen die Schocks der Vergangenheit trotz ihrer Schönheit tief inne. Zwei Jahre lang besuchte der Italiener Lorusso diesen Ort und schuf ein stilles, an die Filme Pedro Costas erinnerndes Doku-Meisterwerk, angereichert mit den Geistern der Fiktion.

Mahdi Fleifels sehr authentischer Thriller TO A LAND UNKNOWN (GB/FR/GR/NL/QA/SA 2024) spielt in Athen, wo die Cousins Chatila und Reda mit Kleinkriminalität und Sexarbeit an Geld und gefälschte Pässe für die Weiterreise nach Europa zu kommen versuchen. Irgendwann ist alles zum Greifen nah, doch Drogen und ihre Entscheidung, sich als Schmuggler zu versuchen, führen sie in düsteres Terrain. Palästina und Deutschland bleiben beide auf ihre Art ein Traum. Mahdi Fleifel inszenierte ein mitreißendes Buddy-Movie über die Traurigkeit des Exils.

MOTHERSHIP (FR/BE 2023) von Muriel Cravatte verfolgt die Arbeit auf der „Ocean Viking“, dessen Crew sich aufgrund des Versagens Europas der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer verschrieben hat. Sie nehmen Menschen aus überfüllten Booten auf, stellen Essen, medizinische Versorgung und psychologische Beratung bereit und bieten Schutz vor der libyschen Küstenwache. Gleichzeitig versuchen sie, europäisches Recht durchzusetzen und Einlaufgenehmigungen zu erwirken. Ein fesselndes Porträt voll Hoffnung in Zeiten, in denen neben tausenden von Menschen die letzten humanen Werte zu kentern drohen.

In OPPONENT (SE 2024) inszeniert der Exil-Iraner Milad Alami die Geschichte von Iman und seiner Familie, die aus dem Iran nach Schweden kommen und sich dort in Eislandschaften, ständig wechselnden Unterkünften und einem ungewissen Asylprozess wiederfinden. Um ihre Chancen auf einen Aufenthaltstitel zu steigern, beginnt der ehemalige Profiwrestler wieder auf die Matte zu treten. Dabei kommt es nicht nur zu erotischen Spannungen mit dem jungen Thomas, sondern Iman trifft auch auf sein ehemaliges Team, mit dem noch Rechnungen offen sind.

Nicole Vögeles THE LANDSCAPE AND THE FURY (CH 2024) befasst sich mit der bosnisch-kroatischen Grenze: Altes Kriegsgerät steht in den Wäldern, und auf dem Laub liegen aufgeweichte Passbilder Geflüchteter. Auf ihrer strapaziösen Odyssee über die Balkanroute ziehen sie durch Landschaften, in denen Minenräumtrupps die gefährlichen Überreste der Kriege der 1990er beseitigen. Damals zwang die Gewalt in Ex-Jugoslawien hunderttausende Menschen zur Flucht. Heute treffen die aus Syrien, Afghanistan und anderen Konfliktregionen Aufgebrochenen auf ein europäisches Grenzregime, das die Schutzsuchenden entmenschlicht und zurückdrängt.

Ausstellungen, Lesungen und Diskussion

Im Murnau-Filmtheater wird die mehrfach ausgezeichnete Wanderfoto-Ausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ gezeigt, die als Ehrenamtsprojekt im Asylkreis Haltern am See entstanden ist. Die Ausstellung lädt dazu ein, genauer hinzuschauen. Wer sind die Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen? Was hat sie in die Flucht getrieben? Wie geht Fliehen überhaupt? Und schließlich: Wie haben die Menschen ihre Ankunft in Deutschland erlebt?

Der Nassauische Kunstverein Wiesbaden zeigt im Rahmenprogramm vom 31. Oktober 2024 bis 16. Februar 2025 Videokunst von der Fluxus-Stipendiatin Maja Smrekar unter dem Titel I HUNT NATURE AND CULTURE HUNTS ME und SUPERPOSITION – TEIL II. Die Werke greifen das Festivalthema aus der Perspektive nichtmenschlicher Akteure auf. Das Video zeigt Smrekars Performance mit Wölfen und Wolf-Hund-Hybriden. Die Künstlerin erforscht die emotionale Beziehung zwischen Mensch und Hund und verweist auf ihre Koevolution. Nicht Flucht und Vertreibung sichern das Überleben, sondern Kooperation und Toleranz.

In der Mauritius-Mediathek findet am Freitag, 22. November, um 18.30 Uhr die Lesung von Ronya Othmann aus „Vierundsiebzig“ statt. Das Gespräch wird von Anna Yeliz Schentke moderiert und ist vom Trägerkreis „WIR in Wiesbaden“, Spiegelbild – Politische Bildung aus Wiesbaden und Förderverein Wiesbadener Literaturhaus Villa Clementine e.V. mitorganisiert. Ronya Othmann hat eine Form für das Unaussprechliche gesucht, um den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Kämpfern des IS, zu beschreiben.

In der Krypta der Marktkirche findet am Sonntag, 17. November um 16.30 Uhr der Vortrag: EINBLICKE IN DIE ZIVILE SEENOTRETTUNG AN EUROPAS GRENZEN mit Hennes Grossmann und Mirjam Reininger statt. Während in der Festung Europa die Forderungen nach Abschottung immer lauter werden, ertrinken vor ihren Mauern auf dem zentralen Mittelmeer weiterhin jedes Jahr tausende Menschen. Vereine wie RESQSHIP versuchen, diesem Sterben mit zivil betriebenen Schiffen etwas entgegenzusetzen. In diesem Vortrag berichten Crewmitglieder des von RESQSHIP betriebenen Motorseglers „Nadir“ von ihren Einsätzen und den menschenunwürdigen Zuständen vor Europas Küsten. Ein kurzer Film mit Aufnahmen von Bord und anschließendem Gespräch lässt Raum für Ihre Fragen.

Am Samstag, 23. November, findet um15 Uhr in Murnau-Filmtheater das PANEL ZUM THEMENSCHWERPUNKT FLUCHT UND VERTREIBUNG statt. Bilder von Flucht, Vertreibung und Exil sind allgegenwärtig. In den Nachrichten, den sozialen Medien und im Kino. Doch welche Blickwinkel und Filmformen brechen Stereotype und Machtstrukturen auf und schaffen wirkliche Gegenbilder zum verrohten Diskurs? Wie kann Solidarität funktionieren? Kann Film etwas an den Verhältnissen ändern? Robin Vanbesien, Regisseur von HOLD ON TO HER, Hoda Taheri, Regisseurin von MOTHER PRAYS ALL DAY LONG, diskutieren unter der Moderation von Amos Borchert, Kurator des Themenschwerpunkts.

Matinee

Die Sonntagsmatinee schließt den diesjährigen Themenfokus Flucht und Vertreibung von exground filmfest gebührend ab. Am 24. November um 12 Uhr wird die Dokumentation HOLD ON TO HER (BE 2024) in Anwesenheit des Regisseurs Robin Vanbesien gezeigt. 2018 wird in Belgien ein Transporter mit fliehenden Menschen von der Polizei beschossen. Die zweijährige Mawda Shawri stirbt. Einige Jahre später organisieren Regisseur Robin Vanbesien und Aktivisten eine Zusammenkunft und geben Mawda eine Stimme. Auf der Grundlage von vorher geführten Interviews, die als Voiceover über den Bildern liegen, stellen sie einen Ort des kollektiven Gedenkens her, der Wut, Trauer, politischen Forderungen und einer Gegenerzählung zu den staatlichen Lügen Raum schafft. Im Gespräch mit Amos Borchert wird Robin Vanbesien unter anderem über die inhaltlichen und ästhetischen Konzepte von HOLD ON TO HER, den Begriff des „ciné place-making“ und den von ihm mitbegründeten Zusammenschluss „The Post Film Collective“ sprechen.

Filmpreis Amnesty International Wiesbaden

Traditionell macht sich exground filmfest für das Wahren der Menschenrechte stark. Die schon seit vielen Jahren etablierte Kooperation mit Amnesty International hat dieses Jahr einen besonderen Stellenwert erhalten. Neben den traditionellen Preisen wird 2024 der Filmpreis Amnesty International Wiesbaden, dotiert mit 1.000 EUR, durch eine Jury an den besten Film im Themenschwerpunkt Flucht und Vertreibung vergeben.

Großzügig gefördert wird der Schwerpunkt wieder vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert