von Mara Braun, Fotos: Katharina Dubno
„Oh, Entschuldigung!“ Ruth Sartor schaut auf zu der Frau, der ihre Worte gelten, doch die erwidert den Blick nicht. Wort- und reaktionslos eilt sie weiter – dabei wäre es eigentlich an ihr gewesen, sich zu entschuldigen: Weil es ihr im schmalen Durchgang eines Schuhladens nicht schnell genug geht, drängelt sie sich vorbei, rempelt ein Regal an und kippt es Sartor samt Inhalt fast in den Schoß. „Oder war das nicht ich?“, überlegt diese verunsichert. Nein, sie hat das Regal nicht angerempelt, es wurde gegen sie gestoßen. Den Gedanken, um etwas bitten zu müssen – und sei es um Entschuldigung – hat sie so verinnerlicht, dass ihr die Worte wie automatisch über die Lippen kommen. „Meistens sind die Leute schon aufmerksam, aber es gibt Tage…“, sagt Sartor und auch das klingt wieder entschuldigend. Man möchte der anderen, die im Fortlaufen noch mit den Augen gerollt hat, hinterher gehen und ihr erklären, wie unmöglich das war. „Aber es nutzt nichts, sich immer zu ärgern“, bricht die Stimme von Ruth Sartor die Stille, nun gar nicht mehr unsicher, sondern energisch. Die Sonne scheint. Auf dem Wochenmarkt wuselt es vor Menschen und die Luft riecht nach Frühling: Nein, es nutzt nichts.
„Erklären Sie das mal beim Amt“
Ruth Sartor ist Spastikerin, sitzt von Geburt an im Rollstuhl. „Ich bin nicht geistig behindert“, sagt sie nachdrücklich. Auch so ein Reflex. Kein Wunder, wenn man mit einer Behinderung lebt, deren Name verunglimpft gerne als Beschimpfung herhalten darf: Spasti. „Ich bin nur körperlich behindert, wobei, ‚nur’ trifft es natürlich nicht, das reicht schon. Ich muss es aber immer wieder sagen: Man kann sich mit mir ganz normal unterhalten. Nur, erklären Sie das mal denen beim Amt.“ Das Thema Ämter ist ohnehin eines, mit dem die 52-Jährige hadert: „Es gibt unfassbar viele bürokratische Hürden für, na, alles. Dabei möchte ich einfach so selbstständig leben wie irgend möglich.“ Die Sonne knallt auf den Vorplatz des Marktes, Ruth Sartor blinzelt gegen das Licht. Als eine andere Frau im Rollstuhl sich nähert, hebt die Wahlmainzerin die Hand, winkt und erklärt: „Eine Freundin, aus der Werkstatt.“ Gemeint sind die WfB, die „Werkstätten für behinderte Menschen Mainz“, wo Sartor wochentags arbeitet. „Als Telefonistin“, erzählt sie. Die Freundin, die sich zu ihr gesellt hat, nickt. Leben freilich könne man von dem verdienten Geld nicht: „Ein Hungerlohn“, sagt Sartor und ihre Freundin lacht: „Allerdings.“ Wiewohl klar ist, diese Bewertung richtet sich nicht gegen „ihre“ Werkstatt, in der sich die Frau mit den kurzen Haaren sehr wohl fühlt und deren Freizeitangebote wie Rollstuhltanz sie begeistert nutzt. Nein, es ist das System, mit dem sie spürbar ringt: „Man arbeitet wie alle anderen auch und muss doch ständig um Hilfe bitten.“
„Sport ziehe ich knallhart durch“
Es dürfe aber doch nicht zu viel verlangt sein, „wenn ich mir in der Sonne einen Cappuccino leisten will oder mal in den Urlaub fahren möchte“. Das Meer hat sie zuletzt als Kind gesehen, doch Selbstmitleid ist ihr fremd: „Das trifft ja nicht nur uns“, findet sie – und meint mit „uns“ die Behinderten als Gemeinschaft. „Das soziale System in diesem Land ist insgesamt kaputt. Es geht immer mehr Menschen schlecht.“ Wieder nickt ihre Freundin. „Gekürzt wird da, wo es den Leuten weh tut.“ Für 20 Stunden pro Wochenende, also in der Zeit von Freitag- bis Sonntagabend, hat Sartor Hilfe, fünf Assistentinnen wechseln sich nach Dienstplan ab. „Ich bin ja recht selbstständig, aber gewisse Dinge gehen nicht alleine.“ Mit der Spastik komme es schon mal vor, dass die Muskeln ausgerechnet dann „dicht machen“, wenn sie auf der Toilette sitzt: „Dann komme ich alleine nicht weiter.“ Offen und unbefangen spricht sie über die Probleme, mit denen sie im Alltag kämpft. Die Behinderung ist ein natürlicher Teil ihres Selbstverständnisses und die Einschränkungen, die diese mit sich bringt, empfindet sie genau so: einschränkend. Was im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, dass sie hadert oder unglücklich ist, im Gegenteil; diese Unterscheidung ist ihr wichtig. „Unter der Woche kommt um sechs Uhr der Pflegedienst, um halb acht fahren sie mich in die WfB.“ Physiotherapie gehört ebenso zum täglichen Programm wie Sport: „Das ziehe ich auch knallhart durch – ich will mich bewegen.“ Und seit sie 2005 aus einer stationären Einrichtung in ihre eigene Wohnung gezogen ist, hat Ruth Sartor noch etwas für sich entdeckt: „Ich koche leidenschaftlich gerne. Das habe ich erst in der Wohnung gelernt. Davon kriege ich gar nicht genug.“ Die Küchenzeile ist extra niedrig; auch das etwas, worauf man ohne Behinderung erst mal kommen muss. Große Hilfe in Sachen Umzug, Organisation und beim Kochen lernen war ihr eine pädagogische Hilfskraft, die sie übers „Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen“ (ZsL) angeheuert hat: „Witzigerweise eine alte Schulkameradin.“
„Das kann einen schon ankotzen“
Über den Umgang der Gesellschaft mit Behinderten macht sich die 52-Jährige oft Gedanken. „Da ist viel Unsicherheit dabei, Angst davor, uns irgendwie zu nahe zu treten“, glaubt sie und beteuert: „Ich bin nicht unglücklich mit den Leuten, wenn sie merken, dass ich Hilfe brauche, helfen sie. Oft kommen sie nur nicht darauf.“ Diese Gedankenlosigkeit ist auf Schritt und Tritt spürbar: Wie soll sie mit ihrem Rollstuhl in eine Kneipe kommen, ohne dass jemand die Tür aufhält? „Man braucht viel Geduld.“ Was ist mit den zahlreichen Läden in der Altstadt, die nur über eine kleine Treppe erreichbar sind? „Ich bitte Passanten, die Verkäufer rauszuschicken.“ Wie rangiert man im Bus in die für Rollstühle bestimmte Ecke? „Man muss nerven. Von alleine macht niemand Platz.“ Dann wären da noch Momente wie der, in dem ein Auto in der Fußgängerzone rückwärts fährt und den Rollstuhl auf seiner niedrigen Höhe nicht sieht („Da hatte ich schon Herzklopfen“) – oder die Unebenheiten im Kopfsteinpflaster, über die nur eine langsame Bewegung möglich ist, um nicht aus dem Gerät zu kippen. Dabei funktioniert hier in Mainz im öffentlichen Raum schon vieles richtig gut, findet Marita Boos-Waidosch, die Behindertenbeauftragte der Stadt. „Der öffentliche Personennahverkehr ist eine echte Erfolgsgeschichte.“ Die vollständige Flotte, 32 Straßenbahnen und 137 Busse, verfügt über Niederflurtechnik, bestätigt Michael Theurer, Pressesprecher der Mainzer Verkehrsgesellschaft. Schwieriger sind Lösungen in der so genannten Privatöffentlichkeit zu finden, erklärt Boos-Waidosch. „Jedes öffentliche Gebäude muss heute ohnehin barrierefrei sein. Aber für private Ladeninhaber gibt es keine gesetzliche Verpflichtung, da sind wir von Willkür abhängig.“ In vielen Bereichen funktioniere auch das, manchmal aber sei das Brett auch mit noch so viel Bemühen nicht zu bohren. „Einige sind stur – das sind Diskussionen, die kann sich kein Mensch vorstellen. Das kann einen schon mal so richtig ankotzen.“
„Da fühle ich mich ausgesperrt“
Wenn man also den Gedanken der Inklusion so versteht, dass die Umwelt derart organisiert werden sollte, dass Barrieren gar nicht erst entstehen, bleibt in vielen Bereichen tatsächlich nach wie vor nur Kopfschütteln. „Wenn ein Café Stehtische hat, an die ich nicht rankomme, es nur über Stufen hinein geht und die nicht behindertengerechte Toilette im Untergeschoss ist, fühle ich mich ausgesperrt“, sagt Ruth Sartor – und wen wundert’s! Für Marita Boos-Waidosch sind in dem Zusammenhang die Argumente ärgerlich, „die quasi vermitteln wollen, man könne mit Rollstuhl ja woanders seinen Kaffee trinken.“ Warum, das liegt auf der Hand: „Was passiert denn, wenn alle so denken?“ Inklusion beginnt im Kopf.