Direkt zum Inhalt wechseln
|

Die Beobachterin: Ein Kaffee mit der neuen Mainzer Stadtschreiberin Julia Schoch

Umgeben von Worten: Julia Schoch entdeckt Mainz und lässt auch eigene Erinnerungen in ihre Romane einfließen

Julia Schoch, die 39. Inhaberin des Literaturpreises „Mainzer Stadtschreiber“, bestellt ihren Kaffee so, dass die Milch in einem separaten Kännchen gebracht wird, und schaut dabei mit bemerkenswert hellen Augen aus den Fenstern des Cafés am Leichhof vorbeihuschenden Passanten zu. Die vielfach ausgezeichnete Autorin strahlt Gelassenheit aus. Schoch ist 50 Jahre alt und arbeitet freiberuflich als Autorin, Übersetzerin und Kolumnistin. Nach der Schule studierte sie Germanistik und Romanistik an der Universität Potsdam, in Montpellier und Bukarest und lehrte französische Literatur in Potsdam. In ihrer Jugend erlebte sie den Zusammenbruch der DDR. Heute beschreibt sie die Zeit nach der Wende als Möglichkeit, sich neu zu entwerfen. Und dies hat sie ausgiebig getan, in einer Vielzahl von Projekten. Schoch erzählt von ihrem Büro in Potsdam, in dem sie auf zwei Schreibtischen ein Sammelsurium an Textstücken hortet. Es helfe ihr dabei, die Schwelle zwischen Schreiben und Realität zu übertreten. Um in Mainz einen solchen Ort zu finden, muss sie die Stadt noch besser kennenlernen.

Leben in Mainz
Die Wohnung in Mainz, für die Stadtschreiber für jeweils ein Jahr Bezugsrecht erhalten, wird sie in den nächsten Monaten noch etwas gemütlicher einrichten. Und auch die Stadt will sie besser kennenlernen, bisher war sie lediglich in der Altstadt rund um den Dom unterwegs. Viel Zeit hat sie nicht, denn meist hält das Familienleben die zweifache Mutter in Potsdam. Und ist sie in Mainz, ist der Terminkalender gefüllt mit Lesungen und Vorträgen. Momentan schreibt sie unter anderem an einem Drehbuch. Denn mit der Verleihung des Literaturpreises ist auch die Möglichkeit verbunden, gemeinsam mit dem ZDF eine dreißigminütige Dokumentation über ein Thema freier Wahl zu drehen. Worum es gehen soll, verrät Julia Schoch noch nicht. „Aber spannend ist doch: Was kann der Film leisten, was das Buch nicht kann?“, fragt sie und lehnt sich nach vorne. Was das Buch kann, testet die Autorin, seit sie schreiben gelernt hat.

Thema Zeit
Besonders fasziniere sie der Gedanke, wie sich der Ablauf von Zeit beschreiben lässt: „Unsere Erinnerung ist das beste Mittel, um das Vergehen von Zeit wirklich zu messen“, sagt Julia Schoch und trinkt einen Schluck aus ihrer Tasse. „Und unsere Erinnerungen sind abhängig davon, wie wir jetzt sind.“ Vielleicht macht diese Philosophie, die die Annahme voraussetzt, es gäbe keine einzige und kollektiv erfahrbare Realität, Schochs Texte aus: Nüchtern, aber wortgewandt geschrieben ist zum Beispiel ihr aktueller Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“. Anstatt einer chronologischen Handlung zu folgen, besteht er aus seriellen Momentaufnahmen. Gedanken, Rückblicke und Erinnerungen über das Werden und Sterben einer Ehe werden von der Ich-Erzählerin fragmentarisch dargestellt, eingeordnet und reflektiert. Es entsteht eine wortstark arrangierte Atmosphäre – die auch Frustrationspotenzial besitzen kann. Denn angesichts des Buchtitels und der teilweise starken Rhetorik ist die Protagonistin in ihren tatsächlichen Handlungen oft passiv und stumm. Die Tat erfordert eine zumindest für den Augenblick feste Meinung – und so etwas scheint für Schochs Protagonistin nur schwer möglich zu sein.

Vergangenheits-Aufarbeitung
In ihrem 2018 erschienenen Generationenroman „Schöne Seelen und Komplizen“, in dem sechzehn Schüler einer Schulklasse in der DDR vor und nach der Wende zu Wort kommen, wünscht man sich mehr Verknüpfungen zwischen den Geschichten. Die Fülle an Fragmenten und Gedanken hat das Potenzial, ein Spinnennetz an Beziehungen und Einflüssen der Personen zu zeichnen. Aber die Erzählungen in den kurzen Kapiteln bleiben oft individuell. Wiederholungen von Namen, Erinnerungen an gemeinsam Durchlebtes oder direkte Bezüge auf andere Charaktere sind selten. Wichtiger dagegen sind Gedanken, Erinnerungen und vor allem Beobachtungen. Und ähnlich wie manche Charaktere aus ihren Büchern schenkt auch Julia Schoch selbst der Welt um sich herum viel Beachtung. Momentan arbeitet sie an einer Trilogie, die sich mit den vielfältigen sozialen Rollen und – wortwörtlich – Vorkommnissen im Leben befasst. Der erste Teil konzentriert sich auf die (überraschende) Herkunftsfamilie der Protagonistin, im zweiten Teil geht es um die selbstgewählte Beziehung und Ehe. Der dritte Teil, das sei schon einmal verraten, soll sich auf das Umfeld des lyrischen Ichs konzentrieren. So entsteht mittels Brücken und Referenzen wieder eine Art Mosaik, „ein Panorama“, so Schoch. Dieses Thema ist ihr wichtig, der Kaffee vergessen, der Blick intensiv. In Sachen Erinnerung und Fantasie hält Julia Schoch es wie mit Milch und Kaffee: Das Vermischen übernimmt sie selbst. Und blickt sie aus dem Café auf den Leichhofplatz, scheint jeder Passant für einen Moment zur Hauptperson zu werden; aufmerksam verfolgt von der Beobachterin.

Text Anne Stollenwerk Foto Jana Kay

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert