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8 neue Sterne auf dem Mainzer „Walk Of Fame“


Acht neue Sterne der Satire werden am Dienstag, 12. April von ihren Stiftern auf dem Romano-Guardini-Platz an der Schillerstraße (Proviant-Magazin) enthüllt. Um 15 Uhr begrüßen OB Jens Beutel sowie Marianne Grosse, Kulturdezernentin und Vorsitzende der Stiftung Deutsches Kabarettarchiv, die Gäste – darunter auch Stifter aus Österreich, Frankreich und der Schweiz.
Bereits 65 Sterne der Satire „strahlen“ auf dem Weg zwischen dem Deutschen Kabarettarchiv und der Kleinkunstbühne unterhaus seit Beginn des Projekts im Jahre 2004 (optisch als auch inhaltlich in allen wissenswerten Details unter www.kabarett.de einzusehen).

Das Jahr 2011 bringt drei Daten zusammen: 130 Jahre französisches Kabarett, 110 Jahre deutschsprachiges Kabarett und 50 Jahre Deutsches Kabarettarchiv. Daher geht es bei den neuen Sternen 66 bis 73 auch um Künstler aus Frankreich, Österreich, der Schweiz, sowie um deutsche Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die neuen Sterne der Satire

RAINER OTTO         [Stern 66]
Gestiftet von der Stadt Bernburg (Saale)
Paul Koller, Kulturdezernent

TRUDE KOLMAN    [Stern 67]
Gestiftet von Marianne Grosse
Kulturdezernentin der Stadt Mainz

HANNE WIEDER        [Stern 68]
Gestiftet von Walter Schumacher
Staatssekretär für Kultur von Rheinland-Pfalz

ARISTIDE BRUANT    [Stern 69]
Gestiftet vom Institut Francais de Mayence
Leiterin Isabelle Farcat

PETER WEHLE        [Stern 70]
Gestiftet vom Thomas Sessler Verlag, Wien
Professor Ulrich Schulenburg

JURA SOYFER        [Stern 71]
Gestiftet vom Thomas Sessler Verlag, Wien
Professor Ulrich Schulenburg

ALFRED RASSER     [Stern 72]
Gestiftet von Peter Boudgoust
Intendant des SWR

FRANZ HOHLER        [Stern 73]
Gestiftet von Peter Boudgoust
Intendant des SWR

Rainer Otto (1939)
ist der profilierteste Theoretiker des sozialistischen Kabaretts und  zentrale Figur der ostdeutschen Kabarettszene seit den siebziger Jahren. Von 1965 bis zur Privatisierung Anfang 1993 prägt er als Autor und Dramaturg, Regisseur und Direktor die Leipziger „Pfeffermühle“ und inszeniert an verschiedenen anderen Kabarettbühnen. Pragmatisches Schlitzohr und smarter Strippenzieher, organisiert der „Diplomat fürs Grobe“ (Harald Pfeifer) 1969 die ersten Kabarett-Tage der DDR, holt in den achtziger Jahren Dieter Hildebrandt und Werner Schneyder für ein  aufsehenerregendes Gastspiel nach Leipzig und gehört zu den Erfindern der „Lachmesse“. Auch nach der Wende auf die Kraft des Wortes und die Intelligenz des Publikums setzend, arbeitet der „Kabarettpapst des Ostens“ von 1993 bis 2006 mit dem Leipziger Ensemble „Sanftwut“ zusammen und verfasst als profunder Kenner der Kleinkunstgeschichte Rundfunk- und Zeitungsbeiträge zum historischen wie aktuellen Kabarett.

„Ein streitlustiger sanfter Diktator, dessen Inszenierungen Maßstäbe setzten und der beharrlich die Eigenständigkeit von Kabarett und Satire gegen die Machtansprüche der Staatsbürokraten verteidigte.“ (Jürgen Hart)

Trude Kolman (1904-1969)
ist als Direktorin und erste weibliche Regisseurin eine der zentralen Figuren der Münchner Kabarett- und Theaterszene der fünfziger und sechziger Jahre. Als Mitgründerin und Leiterin der 1951 eröffneten Kleinen Freiheit, gewinnt sie Erich Kästner und Friedrich Hollaender ein letztes Mal für die Kleinkunst, entdeckt und fördert Martin Morlock oder auch Helen Vita. Dabei setzt die „Präzisionshexe“ (Hanne Wieder) fort, was sie 1935 als Chefin des kurz darauf wegen „schrankenloser jüdischer Frechheit und Gemeinheit“, so die Gestapo, verbotenen Berliner TingelTangel begonnen hat: Zeitkritik als Weltverriss, theaternahes Kabarett als philosophische Anstalt. Noch im gleichen Jahr nach Wien emigriert, initiiert die Neuberin der Elften Muse mit Curt Bry, den sie aus gemeinsamen Katakomben-Tagen kennt, den Sechsten Himmel, bevor sie 1939 nach England geht und als Londoner Pensionswirtin überlebt.

„Wie oft und wie herrlich haben wir miteinander gestritten, und immer wurde ein Erfolg daraus. Das Fehlen deiner elektrisierenden Persönlichkeit ist ein schmerzlicher Verlust. Hab Dank!“ (Friedrich Hollaender)

Hanne Wieder (1929-1989)
ist die faszinierende Circe des deutschen Nachkriegskabaretts, „schnoddrige Cabaret-Königin“ (Theo Lingen) und süffisante Diseuse klassischen Zuschnitts. Fünf Jahre spielt sie an der Seite von Lore Lorentz beim Düsseldorfer Kom(m)ödchen, wechselt 1953 zu den Kieler Amnestierten und landet schließlich an der Münchner Kleinen Freiheit. Hier überzeugt die dunkle sexpompöse Diva mit der kellertiefen Stimme als virtuose Darstellerin in den Nachkriegsrevuen Hollaenders, an deren Erfolg die „ganz und gar unglaubliche Frau“ mit ihrem „dreimal um die Ecke züngelnden Lächeln, das die ganze Erotik der Weltliteratur durch den Kakao zu ziehen vermag“ (Friedrich Hollaender) maßgeblichen Anteil hat. Es folgen zahlreiche Film- und Theaterengagements und immer wieder Soloprogramme mit Chansons, Songs und Liedern von Bert Brecht bis zu Cole Porter:

„Eine Chansonniere, die fast alles kann. Sie zirpt und girrt, grunzt vor Wollust, räkelt sich schnoddrig-zärtlich in Melancholie, um dann mühelos-frech in Ironie zu verfallen. Eine Chanson-Persönlichkeit, die den Kabarett-Majestäten von damals absolut ebenbürtig ist.“ (Sigrid Hardt)

Aristide Bruant (1851-1925)
ist einer der ersten Stars des Kabaretts und Wegbereiter des modernen Chansons. Als Ensemblemitglied im ersten Kabarett der Neuzeit, dem Pariser Chat noir ab 1881 und im eigenen Kabarett Le Mirliton ab 1885, präsentiert er seine sozialkritischen, die Bourgeoisie attackierenden und die von der Gesellschaft Geächteten glorifizierenden Chansons, die bis zu den Liedermachern der sechziger Jahre ihre Vorbildfunktion behalten. In Schaftstiefeln, rotem Hemd, breitkrempigem Hut und Knotenstock auftretend, von Henri Toulouse-Lautrec in Porträts, Zeichnungen und Plakate verewigt, werden seine drastischen Publikumsbeschimpfungen legendär, mit denen er gegen das Cabaret als Touristenattraktion wettert:

„Es ist die regnerische Luft der Vorstadtstraßen, in denen abends spärliche Laternen brennen, Kreuz und Schafott liegen gleich nah, und alle Tragödien der Messerstiche und Frauenzimmergeschichten enden im Spital … Die Franzosen fühlen, dass Bruant der Ausdruck seiner Zeit, seiner Epoche, seines Paris von damals gewesen ist, das er in der Weltliteratur unsterblich gemacht hat.“ (Kurt Tucholsky 1925)

Peter Wehle (1914-1986)
ist als sprachgewitzter Klavierhumorist der skurril-liebenswerte Schalksnarr des österreichischen Nachkriegskabaretts. Promovierter Jurist wie Germanist, gehört der  „Dichterkompononistchansonnierpianist“ (Hans Weigel) zu den zentralen Figuren der neuen, zeitsatirischen Wiener Kleinkunst ab 1945. Nach Anfängen als Pianist und Conferencier im ‚Casanova’ tourt der „lachende Zweite“ (Wehle über Wehle) zunächst mit den „Kleinen Vier“ und glänzt im Ensemble des legendären „Kabarett ohne Namen“, ehe er seine Doppelbödigkeit und den Esprit des jüdischen Witzes aufgreifenden musikalisch-literarischen Blödeleien in verschiedenen Duoprogrammen mit Gerhard Bronner präsentiert. Ein hochgebildeter Schelm, prägt der Verfasser unterhaltsamer Sprachführer bis in die achtziger Jahre das österreichische Medienkabarett und schreibt nebenbei mehr als 1000 Chansons und Schlager, denn „wild ist der Westen, schwer ist der Beruf“:

„Dieser Sohn aus gutem Hause hat sich schon früh einer leichten, leicht boshaften Muse in die Arme geworfen und da er fest entschlossen war, sie nicht mehr loszulassen, hat sie ihn reichlich gesegnet – mit Witz in Wort und Ton und mit dem Talent, wenig ernst zu nehmen, am wenigsten sich selber.“ (Ulrich Weinzierl)

Jura Soyfer (1912-1939)
ist der bedeutendste politisch-satirische Schriftsteller des österreichischen Kabaretts vor 1945, mitverantwortlich für die kurze erste Glanzzeit des Wiener Kabaretts der dreißiger Jahre. Hausautor des Politischen Kabaretts und des ABC, Texter für die Literatur am Naschmarkt und verschiedener Agitprop-Gruppen, sind es vor allem die sogenannten „Mittelstücke“, zeitkritische Parabeln, mit denen er an die Wiener Volkstheatertradition anknüpft. Wiederkehrendes Motiv dieser skeptische Satire, revolutionäres Pathos und lyrische Elegie verbindenden Szenenfolgen ist die Menschheit vor der Katastrophe, verbunden mit der Utopie vom „menschlichen Menschen“. Nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet und nach Dachau deportiert, stirbt der Verfasser des „Dachau-Liedes“ ein Jahr später im KZ Buchenwald:

„Er fügte sich ein in die Runde der von Galgenhumor geprägten Künstler jener Zeit der absoluten Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit. Wir anderen waren mehr oder weniger begabt. Er war genial, kein Nachahmer, kein Epigone, ein legitimer Nachfahre Johann Nestroys. Jura Soyfer war ein Unvollendeter.“ (Hans Weigel)

Alfred Rasser (1907-1977)
ist der erste und lange Jahre einzige politische Kabarettist der Schweiz, ein „Cabaret-Genie und Spaßmacher von bezwingender Vehemenz“ (Werner Wollenberger). Von 1935 an im Ensemble des Zürcher Cornichon, gründet und leitet er zwischen 1943 und 1953 den Basler Kaktus, ehe er in der Folge mit zahlreichen „Einmann-Programmen“ bis in die Mitte der siebziger Jahre durch die Schweiz tourt. Von 1967 bis 1975 Parlamentsmitglied im Schweizer Nationalrat, ist lebenslanges Thema des linken Volksschauspielers das Selbstverständnis der Schweiz als neutrale Vorzeigedemokratie, deren Mängel er in der Figur des Läppli, einem Basler Schweijk, vorführt und satirisch attackiert:

„Als ein prächtig improvisierender Hofnarr des Souveräns, des freien Volkes, ist er stets bereit, die Narrenkappe als Zeichen der Anklägerwürde zu tragen, die sture Narrheit hochgestellter Maskenträger mit der lebendigen des Spötters und Parodisten anzugreifen. Selbst im dümmsten Schwank gelingt es ihm noch, menschliche Schwächen zu enthüllen, Typisches in Wort und Geste unterzubringen.“ (Walter Lesch)

Franz Hohler (1943)
ist der virtuose Doyen des Schweizer poetischen Cabarets, der als engagierter Narr und sensibler Sprachjongleur seit 1965 in stets aufs Neue verblüffenden Kabarettsuiten die Absurdität der Normalität verspielt-hintersinnig vorführt. „Freier Gaukler und Spezialist für cellistische Subkultur“ (Hohler über Hohler), setzt der Märchenerzähler der Apokalypse in seinen Geschichten und Liedern auf die aufklärende Kraft des Komischen und verwandelt mit angewandter Phantasie Kellertheater in Zauberwelten. Seine Filme, Theaterstücke, Hörspiele und Bücher für Erwachsene wie Kinder zeigen den skeptischen Träumer als zivilisationskritischen Gedankengänger mit Blick für die Abgründe und den Wahnsinn der modernen Welt, der pointiert beweist, dass „alles von einem Satz zum nächsten nicht mehr geheuer ist.“ (Karl Krolow)

„Sprache als Ausformung des Denkens, Sprache als Weg zu Verständnis und Missverständnis … Ob Märchenerzähler, Flugzeugentführer, Statistiker oder verzweifelter Schubert-Interpret, er bringt selbst das verstockteste Publikum zum Mitspielen – und Mitdenken. Man muss die Menschen sehr lieben, um ihnen die Gefahren ihrer Gedanken- und Sprachlosigkeit so unterhaltsam nahebringen zu können.“ (Michael Bauer)