Interview: Benjamin Schäfer, Foto: Ramon Haindl
Seit sechs Monaten sind Sie Direktor der Kunsthalle – wie nehmen Sie die regionale Kunstszene wahr?
Ich spreche ja nicht nur die Kunstszene an, sondern insgesamt die Breite des kulturellen Lebens. Alle sind Publikum. Dieser weitere Begriff ist mir wichtig, weil es mir um die Geschichte der Stadt geht, um die Menschen, ihre Identitäten, Befindlichkeiten und Brüche. Ich frage: Was ist den Menschen hier wichtig, woran nähren und woran reiben sie sich?
An welche Geschichten könnten Sie hier anknüpfen?
An viele, an Leibniz, an Rabanus Maurus, Georg Forster, den römischen Festungsbau, die jüdische Gelehrsamkeit, das schelmische Treiben, die Willkommenskultur und Kulinarik. Vielleicht ist Mainz auch darin charakterisiert, dass die Stadt wie ein Modernisierungsverlierer wirkt. Als in Königsberg im 18. Jahrhundert Immanuel Kant die großen ersten Fragen stellt, wird hier die Universität geschlossen. Manche wollen diesen vereisten Zustand bewahren und die Moderne überwintern. Einen Ausweg wird nur eine lebendige und aktuelle Kunst bieten, die dies alles aufzeigt, thematisiert und bedenkt.
Welche Rolle spielt dabei die Kunsthalle?
Meine Aufgabe ist es, herausragende Künstler hierher zu bringen. Aber auch Publikum, Interesse, Presse, Sponsoren und vieles andere mehr. Sehr gute Künstler wie Roman Signer, Attila Csörgö und nun David Claerbout aus Belgien können überall ausstellen – warum sollen sie nach Mainz kommen? Die reiche Geschichte ist etwas, das die Stadt anziehend macht, aber natürlich auch attraktive Ausstellungsräume, internationale Standards in der Präsentation, Vermittlungsaktivitäten und nicht zuletzt ein professionelles Team.
Die Kunsthalle dient ja auch dazu, das Zollhafen-Viertel aufzuwerten und teurer zu machen. Ist das für Sie ein Problem?
Die Kunsthalle muss die Menschen jetzt bewegen. Es wäre falsch, darauf zu warten, dass der Zollhafen in zehn Jahren ein florierendes Viertel sein wird. Der Ort ist spannend und seine Geschichte als Industrieareal auch. Roman Signer entschloss sich, ein Kajak auf einen Kran zu hängen. Für viele Künstler ist dieser Zwischenzustand des Hafens ein Ansatzpunkt, weil er ungewöhnlich und individuell ist. Daneben gibt es ein neu geführtes Café.
Was halten Sie von der lokalen freien Kulturszene in Mainz?
Irgendjemand hat im 19. Jahrhundert sehr viel Geld in die Hand genommen, um am besten Platz der Stadt ein Theater hinzustellen, das fast so groß ist wie der Dom. Niemand ließ ein Museum in dieser Größenordnung errichten. Nun fehlt die Tradition. Möglichst rasch Abhilfe zu schaffen, darin sehe ich die Leidenschaft der Off-Spaces und freien Szene. An kulturellem Aufschwung auf nachhaltigem und solidem Grund zu bauen, das ist das Bestreben der Kunsthalle.
Mensch
Fühlen Sie sich nach sechs Monaten in Mainz angekommen?
Sicherlich. Es gehört zur rheinhessischen Eigenart, freundschaftlich – nicht bloß freundlich – empfangen zu werden. Ich führe viele Gespräche mit Menschen aus der Kunst, Kultur, den Hochschulen, der Politik und den Medien, aber auch mit Nachbarn, Anwohnern und Passanten. Ich bin ja immer noch Greenhorn und möchte erfahren, was die Menschen hier bewegt. Und der Einstieg gelingt schneller und problemloser als anderswo.
Sie haben Ihre Wohnung in Wien behalten – ist das Ihre Heimat?
Ich bin deutschsprachiger Europäer. Ich bin in Österreich aufgewachsen, klar, aber der Begriff „Heimat“ scheint mir nicht mehr zeitgemäß. Er folgt Unterscheidungen, die wir Europäer zwischen Nationen zwar gerne machen, ich möchte ihn aber eher vermeiden.
Gibt es für Sie ein Leben außerhalb der Kunst?
Ja, ich reise gerne mit meiner Frau. Ihre Augen öffnen mir mehr als meine eigenen. Daneben pflege ich ein seltsames Hobby, das ich in Mainz leider nicht ausüben kann: Ich mache Berglauf. Also nicht nur Wandern, sondern richtig Laufen. Ganzjährig bin ich außerdem fußball-affin. Ich achte darauf, kein Spiel zu versäumen. Mainz 05 ist ja sozusagen die Avantgarde im Fußball, der avancierten Kunst nicht unähnlich. Bei Auswärtsspielen besuche ich die Kneipe gegenüber dem Bruchweg-Stadion. Die Stimmung dort mag ich. Da steht ein interessanter Typ, er hat einen Anorak an und eine Mütze auf dem Kopf, obwohl es sehr heiß ist. Er spricht fast nicht, doch wenn er etwas sagt, dann sitzt es. Ich habe keine Ahnung, was das für ein Mensch ist. Ich stelle mich neben ihn hin und genieße den Abend.
Wo halten Sie sich noch gerne auf in Mainz?
Auf meinem Fahrrad. Auch in meinem Büro in der Kunsthalle, denn dort ist die Aussicht auf den Hafen fantastisch. Daneben liebe ich die Sonnenuntergänge von unserem Balkon auf dem Hartenberg. Wir leben im fünften Stock in einem Hochhaus. Es gibt ein riesiges Fenster, fast so groß wie eine Cinemascope-Leinwand. Ich gehe auch gern über die Theodor Heuss-Brücke, obwohl es dort windig ist, denn ich mag die Steigung. Ich weiß nicht, warum. Es müsste nach der Mitte gar nicht mehr nach unten gehen. Vielleicht aus einem gewissen Aufwärtsdrang.
Gibt es einen Ort, wo sie unbedingt hin wollen?
Für meinen früheren Job bin ich sehr viel gereist, bis zu zwei Drittel meiner Zeit. Ich habe viele Orte schätzen gelernt: Buenos Aires zum Beispiel, Zürich, Köln, Belgrad, München und Stamford in Connecticut, wo ich auch gelebt habe. Am liebsten mag ich wohl Boston. Es ist eine nicht zu große Stadt mit einer Million Einwohnern und einem sehr hohen Anteil an Studierenden. Das intellektuelle Potential fordert und befördert. Generell bevorzuge ich Städte, meine Frau zieht es in die Natur und ins Kino. Ich zögere meist und bereue es selten. Kultur in dem Feld, in dem ich arbeite, ist jedoch urbane Kultur.