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„Ich geh‘ zum IS“ – Radikalisierung in Mainz?

Mehr als 960 Deutsche sollen sich seit 2013 dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen haben, davon gehen Sicherheitsbehörden aus. Dass die Propaganda des IS auch vor Jugendlichen nicht Halt macht, zeigen prominente Beispiele, wie das der Schülerin Linda W. aus Sachsen. Wer sind diese Jugendlichen? Und wie wirkt die Propaganda? „Mir passt das alles nicht, ich gehe zum IS.“ Nicht selten provozieren Jugendliche mit solchen Aussagen. Wenn sie dann nach den Sommerferien mit Bart oder Kopftuch wiederkommen, ist manch ein Lehrer verunsichert. Gerade wenn vor Kurzem wieder mal ‚etwas passiert‘ ist. „Salam“ ist eine der bundesweiten Beratungsstellen für islamistische Radikalisierung mit Sitz in Mainz. Über eine Telefon-Hotline können Fragen gestellt oder ein konkreter Verdacht geäußert werden.  „Uns erreichen vor allem Anrufe von besorgten Lehrkräften“, sagt Petra Fliedner, die Leiterin der Projekte gegen Extremismus im Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung. Doch „nur“ bei zehn Prozent der Anrufe handelt es sich um eine islamistische Radikalisierung. Denn von den rund 4,5 Mio. Muslimen in Deutschland gehören nur 11.000 einer salafistischen Gruppe an. Ein Bruchteil, der von Populisten jedoch oft für Stammtischparolen missbraucht wird.

Islamismus, Salafismus, Dschihadismus?

Unter den Anhängern des IS sind sowohl Muslime als auch Konvertiten, Frauen und Männer, aus Deutschland, Europa und der Welt. Wer hinter jedem Muslim einen IS-Kämpfer vermutet, läuft umsonst angstgetrieben durch die Straßen. Die Ideologie des Islamischen Staates ist kein Teil der Religion. Zudem muss zwischen Islamisten, Salafisten und Dschihadisten unterschieden werden. Der Islamismus möchte eine rechtliche und staatliche Ordnung aus dem Islam politisch durchsetzen. Der Salafismus ist eine radikalere Form, die westliche Lebensformen ablehnt und eigene Anhänger als höherwertiger ansieht. Zudem ist das Verhältnis zu Gewalt im Salafismus nicht einheitlich. Im Gegensatz zum politischen Salafismus à la Pierre Vogel ist der gewaltbereite dschihadistische Salafismus in Deutschland wenig vertreten.

Die Rolle des Internets

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts „Dschihadismus im Internet“ untersucht Dr. Bernd Zywietz, Mitarbeiter am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Uni Mainz, Inhalte und Gestaltung dschihadistischer Propaganda-Videos sowie deren Wirkung auf Zuschauer. „Propaganda ist auf eine politische Leitlinie abgestimmt“, so Zywietz. Nach der Gründung des IS 2014 wurde mithilfe von Videos eine Utopie geschaffen: „Kommt zu uns! Helft beim Aufbau eines Islamischen Staates!“ Nachdem die militärischen Erfolge ausblieben, wurde dazu aufgerufen, den Terrorkampf gegen das Ausland zu führen. In den letzten zwei Jahren kam es zu mehr Gewaltdarstellungen. „Hinrichtungen wurden pervers zelebriert“, sagt Zywietz. Zeitlupe und Zeitraffer im Wechsel sorgen dafür, dass sich der Zuschauer gegen die Bilder nicht mehr wehren kann. Ziel ist es, Gegner abzuschrecken. In Videoclips wird die Ideologie künstlerisch und informativ verpackt. Die meisten Produzenten sind selbst durch die westliche Medienwelt sozialisiert. Eigene Logos schaffen Marken und sollen Seriosität symbolisieren. Der IS setzt auch Trailer oder Musikvideos ein. Denn er weiß: Es geht manchmal mehr um das Erleben als um Inhalte.

Der muslimische Bruder

Wichtiger für eine Radikalisierung ist der persönliche Kontakt. Salafisten werben gezielt mit Freizeitaktivitäten und Lebenshilfen. Während einer persönlichen Krise steht plötzlich der ‚muslimische Bruder‘ vor der Tür. „Gelegenheit ist ein wichtiger Faktor“, sagt Fliedner von der Beratungsstelle „Salam“. Ex-Straftäter werden aus dem Gefängnis abgeholt, Bücher über den ‚wahren Islam‘ verteilt. Man wird in die Glaubensgemeinschaft aufgenommen und identifiziert sich mit der Ideologie. Salafisten bieten nicht selten, was Jugendliche suchen. Fragen, die unsere Gesellschaft nicht zufriedenstellend beantworten kann, werden von ihnen angeblich beantwortet. Von den 580 in Rheinland-Pfalz lebenden Islamisten sind 15 als IS-Kämpfer in den Dschihad gezogen, sagt die Statistik des Verfassungsschutzes. Zywietz allerdings betont: „Gerade im Vergleich mit anderen Städten und Regionen haben wir kein besonderes Islamismus-Problem in Mainz.“ – Auch wenn manche Gruppierungen das vielleicht suggerieren wollen und immer wieder Feindbilder erschaffen werden.

Text Lisa Winter Illustration Lisa Lorenz