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Jetzt Deutschland! – Mainzer Flüchtlinge erzählen von Heimat, Flucht und ihrem neuen Leben

Titel1seitig
von Florian Barz. Fotos: Katharina Dubno.

Rabbi Hanna (40) aus Al-Malikiyah, Syrien
Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, war ich in Dubai. Ich habe dort als Buchhalter gearbeitet. Von Zeit zu Zeit bin ich nach Hause gereist, um Freunde und Familie zu besuchen. Es war eine merkwürdige Stimmung. Der Flughafen in Damaskus war zum Beispiel komplett leer. Und alle Menschen haben plötzlich über den Krieg gesprochen. Mein Cousin war in der Armee. 2012 kam er bei einem Gefecht ums Leben. Er war erst 22 Jahre alt, hatte noch nie eine Freundin.

Als mein Arbeitsvisum in Dubai auslief, war klar, dass ich nicht nach Syrien zurückkehren kann. Deshalb bin ich von Dubai in die Schweiz geflogen und von dort weiter nach Deutschland. Für acht Wochen kam ich in Trier in eine Erstaufnahme- Einrichtung. Ich konnte die deutsche Sprache nicht und habe mich verloren gefühlt. Ich habe mich gefragt: Was soll ich in diesem Land? In Trier gab es oft Auseinandersetzungen unter den Flüchtlingen. Es ging vor allem um Religion. Einmal hat ein Kurde, den ich kannte, ein muslimisches Mädchen aus Tschetschenien angemacht. Sie hat es ihrer Familie berichtet und daraufhin gingen die auf den Kurden los. Ich habe noch versucht, die Leute zu beruhigen, aber das hat nichts gebracht. Es gab eine große Schlägerei mit Verletzten, die ins Krankenhaus mussten. Die Polizei war bis zum Morgen vor Ort.

WG mit den Eltern

Im Juni 2013 durfte ich dann nach Mainz zu meinen Eltern. Ich wohne bei ihnen, genau wie mein Bruder Salam, der über die Türkei und Griechenland nach Deutschland geflohen ist. Meine Eltern leben schon seit 2004 in Mainz. Mein Vater kam in Syrien ins Gefängnis, weil er aus der Baath-Partei von Assad ausgetreten ist und das Regime kritisiert hat. Danach hat man ihm den Pass abgenommen, sodass er nicht mehr arbeiten konnte. Er wollte seine Heimat nicht verlassen, aber er hatte keine andere Wahl.

Die Wohnung ist sehr klein und ich habe kein eigenes Zimmer – das ist schon gewöhnungsbedürftig. Eine eigene Wohnung wäre toll, aber das ist in Mainz leider schwierig. Ich suche auch einen Job, aber bisher habe ich nur Absagen bekommen, obwohl ich über 30 Bewerbungen geschrieben habe. Das ist sehr frustrierend. Sie sagen, ich brauche mehr Erfahrung in Deutschland, aber woher soll die kommen, wenn ich nicht mal ein Praktikum bekomme?

Neustart in Mainz

In meiner freien Zeit helfe ich ehrenamtlich neu ankommenden Flüchtlingen. Die meisten von ihnen sind sehr dankbar. Manche Muslime verstehen Deutschland und die Demokratie aber nicht. Sie glauben, dass die Deutschen sie bekehren wollen. Manche werfen ihr Essen weg, weil es nicht halal ist oder sie weigern sich mit einem Afrikaner auf ein Zimmer zu gehen. Das kann ich nicht verstehen. Warum gehen diese Leute nicht nach Saudi-Arabien oder Ägypten?

Ich fühle mich in Mainz sehr wohl. Ich liebe es, mit meinem Fahrrad durch die Stadt zu fahren, zum Beispiel am Rhein entlang. Ich habe auch viele Freunde gefunden, vor allem Deutsche. Wir unternehmen viel, gehen in die Disco, auf WG-Partys, spielen Fußball. Trotzdem gibt es kulturelle Barrieren. Manchmal sage ich etwas oder mache einen Witz, den meine Freunde nicht verstehen. Ich vermisse dann meine alten Freunde sehr.

Viele Syrer in Deutschland wollen in ihr Heimatland zurück. Ein Mann, den ich kenne, hat sieben Töchter. Er sagt: „Wie soll das in Deutschland funktionieren?“ Syrien ist auch meine Heimat. Ich wünsche mir ein friedliches Syrien mit echter Demokratie und einer Trennung von Staat und Religion. Aber das wird es niemals geben. Menschen, die in Syrien für Freiheit und Demokratie eintreten, werden nie eine Chance haben.

PaarMansour (22) und Rohina Sediqi (17) aus Baghlan, Afghanistan
Der weite Weg nach Westen

Mansour: Unsere Familie war eigentlich immer auf der Flucht. Als ich ein kleiner Junge war, sind wir vor der Taliban geflohen und in den Iran ausgewandert. Auch ich musste dort arbeiten, damit wir überleben konnten. Ich habe alles gemacht, was so anfiel: Putzen, Nähen, Kühlschränke reparieren. Als ich 12 Jahre alt war, hat mich eine Mafiabande auf dem Weg zur Arbeit entführt und mich in einem Loch in der Wüste versteckt. Vier Stunden lag ich unter der Erde, im Dunkeln, ehe ich mich von meinen Fesseln befreien und fliehen konnte. Ich hatte großes Glück, denn im Iran werden viele Kinder ermordet, weil die Eltern das Lösegeld nicht zahlen können. Danach hat mein Vater mir verboten zu arbeiten, weil er Angst um mein Leben hatte. Als die Amerikaner in Afghanistan einmarschiert sind, da war ich 15, sind wir nach Baghlan zurückgekehrt.

Rohina: In Afghanistan sind Frauen wie Sklaven, ohne Rechte, wertlos. Sie müssen immer zu Hause bleiben und tun, was die Männer sagen. Die Lehrer haben mich geschlagen, weil ich in der Schule kein Kopftuch tragen wollte. Ich habe den anderen Mädchen gesagt, dass sie auch Rechte haben, stark sein müssen. Auch dafür haben die Lehrer mich geschlagen. Als ich 15 wurde, sollte ich heiraten, aber ich wollte nicht. Die anderen haben nicht mehr mir mit gesprochen, gesagt: Du bist ein schlechtes Mädchen. Ich wurde krank, wegen der Schule und wegen der Nachbarn. Ich habe zu meinem Vater gesagt: Papa, ich kann nicht mehr, ich will nicht hierbleiben, egal, ob ich auf der Flucht sterbe, ich möchte fort.

Gekentert im Schlauchboot

Mansour: In Baghlan gibt es große soziale Probleme. Die Menschen sind sehr arm und es wird oft schlecht übereinander geredet. Die Taliban ist dort nie ganz verschwunden. Irgendwann haben Fremde eine Bombe an der Türklinke unserer Haustür befestigt. Nachbarn haben uns gewarnt, nur deshalb ist nichts passiert. Da war uns klar, dass wir Afghanistan wieder verlassen müssen. Mein Vater hat das Haus und sein Auto verkauft und dann sind wir mit der ganzen Familie losgezogen. Mein Vater, meine Mutter und meine fünf Geschwister.

Rohina: Über Pakistan und den Iran sind wir in die Türkei gelaufen. Das hat sechs Monate gedauert. In der Türkei haben wir Schlepper bezahlt, damit sie uns auf einem Boot nach Griechenland bringen. Das waren gebrauchte, winzige Boote, auf denen sich über 30 Menschen gedrängt haben. Fünfmal haben wir es probiert, aber das Boot ist immer wieder gekentert. Wir waren im offenen Meer und ich habe gesehen, wie Menschen ertrunken sind. Einmal hat uns die griechische Polizei aus dem Meer gerettet. Sie trugen Uniformen, aber ihre Gesichter waren maskiert. Sie haben die Männer geschlagen und uns gefesselt. Wir mussten ihnen unser Geld und alle Handys geben. Den Rest unserer Sachen haben sie einfach weggeworfen, unsere Medikamente, Zeugnisse und Pässe, alles. Im Dunkeln haben sie uns auf einem Boot in die Türkei zurückgebracht und die ganze Zeit Pistolen auf uns gerichtet.

Die Hütte im Wald

Mansour: Meine Mutter hat gesagt, dass sie nicht mehr kann und zurück nach Afghanistan will. Aber ich habe darauf bestanden, dass wir es noch einmal probieren müssen, auf einem anderen Weg, über Bulgarien. Im Grenzzaun war ein kleines Loch, da sind wir durchgeklettert. Von Bulgarien ging es weiter nach Mazedonien und Serbien, Richtung Ungarn. Die ganze Strecke sind wir zu Fuß gelaufen, fast ohne Pause. Weil meine Schwestern noch klein sind, haben mein Bruder und ich sie oft getragen. Wir mussten ein Gebirge überqueren, so hoch, dass wir über den Wolken gelaufen sind. Geschlafen haben wir im Freien. Die Füße meiner Mutter sind schwarz geworden, weil es so kalt war.

Rohina: Wir waren am Ende unserer Kräfte, hatten kein Geld, kein Essen und waren fast alle krank. Ernährt haben wir uns von Äpfeln, die am Wegrand an Bäumen hingen. Ich werde nie vergessen, wie wir hungrig und halb erfroren durch einen Wald irrten und nicht wussten, wo wir waren. Es war hoffnungslos. Dann tauchte plötzlich eine Hütte auf. Aus dem Nichts, mitten im Wald. Sie stand leer. Drinnen hat mein Vater aus einigen Brettern Feuer gemacht und wir konnten uns aufwärmen. Diese Hütte kam von Gott, das glaube ich fest. Am nächsten Morgen haben wir festgestellt, dass die Grenze von Ungarn gar nicht weit weg war, vielleicht fünfzehn Minuten. Wir sind einfach drüber gelaufen und niemand hat uns aufgehalten.

Als wir in Mainz angekommen sind, haben wir jeden Abend geweint. Ich war traumatisiert und konnte erst nicht zur Schule gehen. Jetzt geht es mir besser und ich will ein Buch über meine Erlebnisse schreiben. Mittlerweile spreche ich, genau wie meine Geschwister, sehr gutes Deutsch. In meiner Klasse bin ich sogar eine der Besten. Ich will unbedingt Abitur machen und einen guten Job finden. Ich will zurückgeben, was Deutschland mir gegeben hat. Wir alle sind sehr dankbar.

Mansour: Die Menschen in Mainz sind sehr nett. Sie wissen, was Menschlichkeit bedeutet. Wir genießen die Freiheit hier sehr, zum Beispiel, dass meine Mutter alleine einkaufen kann, ohne Angst zu haben. Ich habe inzwischen auch eine deutsche Freundin. Wir haben uns am Bauwagen an der Planke Nord kennen gelernt und sie hat mich zu ihrem Geburtstag in ihr Wohnheim eingeladen. Am selben Abend waren wir noch im Baron bei einer Gay-Party. Da waren nur Jungs und viele haben sich wie Mädchen geschminkt. Sowas habe ich noch nie gesehen. Viele haben mich angemacht und mir auf den Po gehauen. Das war gewöhnungsbedürftig. Mittlerweile habe ich aber auch homosexuelle Freunde in Mainz. Sobald wir einen Pass bekommen, möchten wir in eine größere Wohnung ziehen. Dann darf ich auch studieren. Ich habe hier auch schon Praktika gemacht, unter anderem beim Landesbeauftragten für Datenschutz. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich bin bei Juvente, Save Me, PlatzDa! und anderen Organisationen tätig, um anderen Flüchtlingen zu helfen.

WedadWedad Al-Hassan (20) aus Aleppo, Syrien
Flucht vor Krieg und Terror

Wir waren schon Flüchtlinge, als wir in Syrien gelebt haben, denn meine Eltern stammen aus Palästina. Obwohl ich in Syrien geboren wurde, habe ich nie einen Pass bekommen, bin also staatenlos. In dem Viertel in Aleppo, in dem wir gelebt haben, waren die Leute sehr religiös. Ich hatte immer Angst, weil ich ein Mädchen bin. Männer haben die Frauen geschlagen, wenn sie nicht vollkommen verhüllt waren. Meine Cousine ist einmal unverschleiert zum Bäcker gegangen, um Brot zu kaufen, da haben Männer sie geschnappt und ihren Kopf abgeschlagen.

Der Krieg war schlimm. Ständig fielen Bomben. Ich habe tote Kinder auf den Straßen gesehen, überall war Blut. Meine Schule wurde von einer Bombe getroffen. Das war Assad. Alle meine Freunde waren dort und sind gestorben. Ich habe nur überlebt, weil ich Angst hatte und lieber zu Hause geblieben bin. Eine Bombe hat auch unser Haus getroffen. Nichts ist mehr davon übrig. Wir sind dann geflohen. Meine Eltern, meine drei Brüder, meine Schwester und ich. Erst mit dem Auto in die Türkei, dann nachts zu Fuß über die Grenze nach Bulgarien.

Dort sollte uns jemand abholen und nach Deutschland bringen, aber stattdessen hat die Polizei auf uns gewartet. Die haben uns ins Gesicht geschlagen, auch mich und meine Mutter. Unser gesamtes Geld und auch die Handys haben sie uns abgenommen. Dann brachten sie uns in ein Gefängnis in Sofia. Dort waren wir in einem großen Raum mit elf anderen Familien eingesperrt. Jeden Abend um neun Uhr haben die Polizisten die Tür verriegelt. Dann durfte niemand mehr auf Toilette oder etwas trinken. Wir mussten 23 Tage in diesem Raum bleiben.

Kirchenasyl in Bretzenheim

In Bulgarien haben sie unsere Fingerabdrücke genommen. Das ist ein großes Problem, denn nach vier Monaten in Deutschland wollte die Behörde uns dorthin zurückschicken, wegen des Dublin-Abkommens. Aber wir können nicht zurück, denn in Bulgarien gibt es kein Leben für Flüchtlinge. Lieber bringen wir uns um. Wir haben einen Anwalt. Er hat Kontakt mit Pfarrer Sascha Heiligenhaus von der Evangelischen Philippus-Gemeinde in Mainz-Bretzenheim aufgenommen. Dort haben wir Kirchenasyl bekommen. Zwei Wochen haben wir in der Kirche gewohnt und geschlafen. Viele Deutsche haben geholfen und uns Essen und Kleidung gebracht. Wir durften das Gelände nicht verlassen wegen der drohenden Abschiebung. Jeden Tag hatten wir Angst, dass die Polizei kommt, um uns zu holen.

Inzwischen sind wir in Deutschland geduldet. Vorläufig. Wir leben in einem Flüchtlingsheim in der Zwerchallee. Meine beiden Brüder und meine Schwester gehen zur Schule. Sie haben da viele Freunde gefunden und machen viel mit ihnen. Ich dagegen bin fast nur zu Hause. Ich würde gerne besser Deutsch lernen, aber ich habe kein Geld für einen Sprachkurs. Deshalb lese ich viele deutsche Texte, um es mir selbst beizubringen. Leider vergesse ich vieles so schnell, weil wir zu Hause nur arabisch sprechen.

Ich gehe manchmal mit meiner Mutter in Mainz spazieren. Meistens zum Rhein, denn da gefällt es mir besonders gut. Auch der Dom ist sehr schön. Einmal die Woche gehe ich auch zu einem Psychologen. Es tut sehr gut, über das zu sprechen, was ich erlebt habe. Trotzdem bin ich eigentlich immer traurig, weil ich nicht weiß, wie es für mich und meine Familie weitergeht. Mein großer Traum ist es, hier Medizin zu studieren. Ich möchte Kinderärztin werden und in einem Krankenhaus arbeiten.